Das Wachstum der Weltbevölkerung ist eng mit der Generierung von Wohlstand und besseren Lebensbedingungen verknüpft. In diesem Artikel wollen wir uns ansehen, welche Typen an Gesellschaftssystemen diese Entwicklung hervorgebracht hat, um anschließend deren Folgen und Zukunftsaussichten beurteilen zu können.
Hand in Hand mit Durchbrüchen in Naturwissenschaften, Technik, Medizin und vielen weiteren Bereichen haben große Teile der Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das historisch gesehen einmalig ist. Die Globalisierung zahlreicher Prozesse ermöglicht es Menschen im 21. Jahrhundert, jederzeit und überall Waren aus aller Welt zu kaufen und bis an die eigene Haustür liefern zu lassen, jeden noch so entlegenen Ort des Planeten zu bereisen, Arbeitsplätze auf anderen Kontinenten anzunehmen sowie dank technischer Revolutionen in virtuellen Welten zu versinken und in allen Sprachen der Welt kommunizieren zu können. Mein erstes Blogprojekt, GLOBALIZED (das ich während meiner Weltreise geschrieben habe), charakterisierte Teilaspekte dieser Entwicklung und bezog sie auf den derzeitigen Alltag an verschiedenen Orten dieser Welt. Leben wir heute in einem besseren Gesellschaftssystem als je zuvor? Haben die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte die Erde zu einem besseren Ort gemacht?
Diese Frage ist eigentlich nicht mit ja oder nein zu beantworten. Zweifellos sind der Menschheit historische Durchbrüche gelungen – heute hungern (prozentual) weniger Menschen als je zuvor, die Kindersterblichkeit ist niedriger denn je, immer mehr Kinder genießen Zugang zu Bildung, immer mehr Menschen sind an Strom- und Wassernetze angeschlossen, und die Lebenserwartung steigt ganz allgemein an. Dennoch sehen wir uns im 21. Jahrhundert mit Problemen konfrontiert, die ihre Ursache unter Anderem in der oben beschriebenen Wohlstandssteigerung haben. Eine besonders ausgeprägte Form des Wohlstands, die über das Verbessern von Lebensbedingungen hinausgeht und bisher nur in einem vergleichsweise kleinen Teil der Erde entstanden ist, kann daher nur als Illusion bezeichnet werden – unter den heutigen Bedingungen ist sie nur haltbar, weil gleichzeitig andere Erdteile die andere Seite eines Ungleichgewichts bilden und Umwelteingriffe vorgenommen werden, deren Folgen viele Generationen in die Zukunft reichen. Diese Wohlstandsillusion ist eine ganz andere Dimension als der Sieg über Krankheiten, der Ausbau des Bildungssystems oder der Bau von Abwasserkanälen und Krankenhäusern: Sie erzählt die Geschichte, dass die oben beschriebenen Möglichkeiten überstrapaziert worden sind.
Das, was wir „Mensch“ nennen, ist ein Tier wie jedes andere. Wir sind Teil eines Prozesses, der als Evolution bekannt ist, und betreten das Spiel auf unserem 4,6 Milliarden Jahre alten Planeten erst ganz am Ende der bisherigen Geschichte. Wenn wir uns die Erdgeschichte als einen Tag mit 24 Stunden vorstellen, erscheint der homo sapiens erst in den letzten zwei Minuten. Vor rund zwei Millionen Jahren existierten, nach heutigem Wissensstand, die ersten menschenähnlichen Tiere im mittleren Teil Afrikas, die infolge von Klimaveränderungen erstmals eine aufrechte Gangart entwickelt hatten. Sie lebten ganz anders, als wir es heute gewohnt sind und in unserer globalisierten Welt tagtäglich beobachten können: Als Jäger und Sammler bewegten sie sich in freier Wildbahn, kämpften Tag für Tag um ihr Überleben und besaßen, abgesehen von einigen einfachen Werkzeugen, keinerlei persönliche Gegenstände. Was seitdem geschah, macht die Geschichte unserer Spezies so einzigartig: Wir entwickelten, in erster Linie auf Grundlage besonderer kognitiver Fähigkeiten, mehrfach völlig neue Lebensmodelle, die im Zuge einer jahrtausendelangen Geschichte in unserem heutigen gipfeln. Über zahlreiche Zwischenschritte, die bereits im Artikel zur Bevölkerungsentwicklung diskutiert wurden (die Zähmung des Feuers, die Entwicklung der Landwirtschaft, der Aufbau von Handelsnetzen, die Erfindung komplizierter Fahr- und Fluggeräte und die Globalisierung zahlreicher Prozesse sind nur einige Beispiele), erreichten wir das heutige Stadium unserer Zivilisation.
Nie zuvor ist in der Geschichte des Lebens auf der Erde etwas Derartiges geschehen. Sicherlich: Jede einzelne Art befindet sich in einem evolutionären Prozess; wir kennen allerdings kein einziges Beispiel, das von einem derart grundlegenden Wandel einer Lebensweise erzählt. Der Mensch ist von einem Jäger im Osten Afrikas, der ohne festes Zuhause als Teil der Natur lebte, zur dominanten Spezies, ja sogar zu einer geologischen Kraft auf diesem Planeten geworden (wie wir im nächsten Artikel sehen werden).
Heute besitzen fast 90 Prozent der Erwachsenen Grundfertigkeiten im Lesen und Schreiben. 80 Prozent aller Menschen haben ein gewisses Maß an Zugang zu Elektrizität. Das sind gute Nachrichten, und zusammengenommen ein Stadium, das besser ist als jedes andere der Menschheitsgeschichte. Aber wir haben an diesem Punkt nicht haltgemacht. Wir haben unseren Wohlstand (zumindest an den Orten, die bereits an einem entsprechenden Entwicklungspunkt angekommen waren) weiter ausgebaut und eine Welt geschaffen, die wir in Deutschland heute Tag für Tag beobachten können. Während es einen großen Unterschied macht, ob ein Mensch Zugang zu sauberem Trinkwasser hat, grundlegende Impfungen erhalten kann oder (in einer Gesellschaft, die wir mit einer Erfindung namens Geld organisieren) ein bestimmtes Vermögen besitzt, sind viele der Möglichkeiten, die wir heute in den reichsten Ländern der Erde haben, keine solchen difference maker. Sie haben eher einen anderen Effekt: Zum einen sorgen sie dafür, dass Menschen anderer Länder in Herstellungsketten unserer Wohlstandsillusion einbezogen werden und häufig (unter schrecklichen Bedingungen) Dinge herstellen, die eigentlich völlig nutzlos sind. Zum anderen verursachen beziehungsweise verschärfen sie die Umweltprobleme, die im Folgenden noch näher analysiert werden.
All die Durchbrüche, die der Mensch in seiner kurzen Geschichte erreicht hat, hatten Einfluss auf die Art und Weise, wie wir leben. Mal verbesserten sie die Welt, mal führten sie zum Aufbau einer mächtigen Illusion: Das, was wir heute in Ländern wie Deutschland Wohlstand nennen, ist eine große Gefahr, solange wir das dahinterstehende System nicht in Einklang mit unseren Lebensgrundlagen bringen können. Wenn wir uns all die Folgen dieser Wohlstandssteigerung ansehen, die in den nächsten Artikeln im Detail diskutiert werden, zeigt sich die Notwendigkeit eines Projektes wie BALANCE: Die Entwicklung der Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten ist nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Sie bedroht auch die Lebensgrundlagen des Planeten, und muss dringend überdacht werden, wenn das 21. Jahrhundert ein positives werden soll.
Wie der Mensch in seiner Geschichte immer mehr Gestaltungskraft entwickelte und immer mehr natürliche Kreisläufe direkt oder indirekt beeinflusst, zeichnet der nächste Artikel nach: Das Anthropozän.