Das Anthropozän

Kombiniert führen die beiden in den vergangenen Artikeln betrachteten Entwicklungen, das Wachsen der Weltbevölkerung und die Steigerung von Wohlstand, in ein neues Stadium der Erdgeschichte, das wir uns in diesem Artikel näher ansehen wollen: Das Anthropozän.

Der Mensch ist zur dominanten Spezies auf diesem Planeten geworden. Mehr noch: Als Ergebnis der Bevölkerungs- und Wohlstandsexplosion, die zur Lebensrealität im Jahr 2020 geführt hat, sind wir nach Meinung zahlreicher Wissenschaftler*innen sogar in ein neues Erdzeitalter eingetreten. Der niederländische Nobelpreisträger Paul J. Crutzen schlug im Jahr 2002 vor, diese vom Menschen dominierte Epoche fortan als „Anthropozän“ zu bezeichnen. Laut Crutzen ist unsere Spezies zu einer „entscheidenden geologischen Triebkraft geworden“. Auch wenn der Anfangspunkt dieses neuen Zeitalters umstritten ist (für die einen war es die Erfindung die Landwirtschaft, für andere der Startpunkt der Industriellen Revolution, wieder für andere der Abwurf der Hiroshima-Atombombe), ist Crutzens Konzept heute weithin anerkannt.

Eine simple Grafik, die den steigenden Einfluss des Menschen verdeutlicht, ist die sogenannte Hockeystick-Kurve. Der US-Amerikaner Michael Mann illustrierte gegen Ende des 20. Jahrhunderts die zeitliche Entwicklung zahlreiche Parameter, die in irgendeiner Form die Wirkmacht unserer Spezies ausdrücken. Mann trug die Weltbevölkerung auf, er untersuchte die Anzahl produzierter Gegenstände, den globalen Stromverbrauch oder die Anzahl an Flugkilometern; er untersuchte die daraus resultierenden Umwelteinflüsse (die genutzte Landfläche, die Konzentration verschiedener Treibausgase, den Düngereinsatz oder den Umfang des Fischfangs) und skizzierte zuletzt auch die Entwicklung verschiedener Umweltprobleme (die Überfischung, die Anzahl ausgestorbener Arten, die Überdüngung von Gewässern oder die zerstörte Regenwaldfläche). Überall hatte die resultierende Kurve einen frappierend ähnlichen Verlauf: Sie glich einem handelsüblichen Hockeystick und wird seitdem auch danach benannt. Manns Kurven sind das wahrscheinlich mächtigste Werkzeug, um das Anthropozän möglichst treffend in einer einzigen Grafik darzustellen. Sie zeigen, wie die Wirkmacht der Menschheit in der jüngeren Geschichte exponentiell angestiegen ist.

Die letzte Klasse an Hockeystick-Kurven – die Entwicklung verschiedener Umweltprobleme – ist mit Blick auf die Zukunft des Lebens die Entscheidende. Würden sich die genannten Umweltprobleme nicht derart verschärfen, wäre an den übrigen Wachstumsgraphen theoretisch nicht einmal etwas auszusetzen. So verhält sich die Gegenwart aber nicht: Die Aktivitäten unserer Spezies wirken massiv auf die Lebensgrundlagen dieses Planeten ein und bedrohen sowohl unsere eigene Zukunft als auch die vieler anderer Tierarten. Und unsere wachsende Wirkmacht – wir werden immer mehr und verfügen über immer mehr Möglichkeiten – verschärft diese Probleme immer weiter.

Die entscheidende Eigenschaft des Anthropozäns ist ein exponentiell ansteigender Eingriff in natürliche Kreisläufe und Systeme. Die oben beschriebenen Umwelteinflüsse, die in den vergangenen Jahrzehnten allesamt exponentiell angestiegen sind, haben dramatische Folgen und lassen sich in meinen Augen in vier Hauptkategorien einteilen. Bevor wir einen Blick in die Zukunft wagen, wollen wir uns diese Kategorien im Detail ansehen:

Veränderung der Atmosphärenchemie: Durch den Ausstoß oder die Freisetzung verschiedener Treibhausgase verursacht die Menschheit eine Verstärkung des natürlichen Treibhauseffekts, der in einer höheren Oberflächentemperatur und zahlreichen darauf aufbauenden Effekten resultiert (Details zu diesen Gefahren sind ebenfalls in meinem ersten Blog GLOBALIZED nachzulesen).

Weiterhin entlassen wir Stickoxide und andere Schadstoffe in die Atmosphäre, welche sich in der Luftqualität in Ballungsräumen und sogenanntem „saurem Regen“ äußern. Ein Spezialfall ist die durch Fluorkohlenwasserstoffe (FCKWs) verursachte Ausdünnung der Ozonschicht. Zuletzt sorgt die Zerstörung von Kohlenstoffsenken (in erster Linie Wäldern und Mooren) für einen weiteren Anstieg der atmosphärischen Treibhausgaskonzentrationen.

Zerstörung und Fragmentierung von Lebensräumen: Ökosysteme aller Art werden vom Menschen entweder vollständig in nutzbare Flächen umgewandelt (beispielweise Regenwald in Ackerflächen oder Grasflächen in Bauland) oder durch Teileingriffe fragmentiert (Beispiele sind die Anlegung neuer Ackerflächen oder der Bau von Eisenbahnen und Straßen). Dadurch verlieren Tierarten ihren Lebensraum. Weiterhin sorgt die Fragmentierung für nennenswerte Veränderungen in der Funktionsweise eines Ökosystems. Das berühmte Experiment von Thomas Lovejoy zeigt das eindrucksvoll.

Eingriffe in Nahrungsketten und Lebensgemeinschaften: Durch verschiedene Aktivitäten verändert der Mensch die Zusammensetzung von Ökosystemen, indem er bestimmte Arten aus einer Lebensgemeinschaft entfernt oder neue hinzufügt. Durch den Aufbau globaler Transportnetze werden immer wieder invasive Arten in neue Lebensräume eingeschleppt, wo sie erheblichen Schaden anrichten. Die gezielte Jagd auf bestimmte Arten (an Land und unter Wasser) führt zu drastischen Verringerungen bestimmter Arten und den Zusammenbruch von Nahrungsketten. Zudem betreibt die Menschheit seit einigen Jahrzehnten sogenannte Aquakulturen, aus denen immer wieder (in der Regel genetisch veränderte) Organismen entkommen und massiv auf die umliegenden Ökosysteme einwirken.

Mangelhafte Müllwirtschaft: Es ist der Menschheit bislang nicht gelungen, Stoffbewegungen als Kreisläufe zu verstehen. Zahlreiche Gegenstände und Chemikalien, die wir erfunden und synthetisiert haben, werden nach ihrer Verwendung verbrannt oder in die Umwelt entsorgt. Prominente Beispiele sind die Plastikmüllinseln in Ozeanen oder die steigenden Schadstoffkonzentrationen in Gewässern und Böden.

Diese Einteilung ist keinesfalls perfekt und vielfältig rückgekoppelt: So wirkt die Zerstörung von Lebensräumen (die Rodung von Wäldern oder Trockenlegung von Mooren) beispielsweise auf die Atmosphärenchemie ein (in diesem Fall auf die Quantität von Treibhausgasen). Wir können uns so dennoch einen Eindruck verschaffen, wie vielfältig und dramatisch der Umwelteinfluss unserer Spezies ist. Schon heute bedrohen die von uns ausgelösten Entwicklungen sowohl ausgewählte Siedlungsgebiete (Stichworte sind der steigende Meeresspiegel, Extremwetterereignisse oder Ernteausfälle) als auch zahlreiche Tierarten (die auf die Verschiebung von Vegetationszonen nicht derart flexibel reagieren können wie der Mensch). Und: Wir steuern sogar auf noch deutlich größere Probleme zu.

Die beiden abschließenden Artikel zeigen, warum die Schaffung neuer Gesellschaftsformen, wie sie auf BALANCE untersucht wird, derart dringend ist: Zum einen sind die von uns beeinflussten Systeme kompliziert rückgekoppelt, wie der Artikel Zeitdruck untersucht, zum anderen legen die Eigenschaften unseres Planeten verschiedene Wachstumsgrenzen fest, die unserem Handeln eine natürliche Grenze in den Weg stellen.

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