Glücksburg an der Ostsee ist die nördlichste Stadt Deutschlands und in erster Linie für sein historisches Wasserschloss bekannt. Als ich mich im August auf den Weg nach Schleswig-Holstein mache, interessiere ich mich allerdings für ein weiteres Aushängeschild der Region: Am Ortsrand von Glücksburg befindet sich „artefact“, das sich selbst als „Zentrum für nachhaltige Entwicklung“ bezeichnet und eine Reihe an innovativen Ansätzen und Konzepten umsetzt. Während im „Klima-Erlebnispark“ auf spielerische Art und Weise die Themen Energie und Klimaschutz vermittelt werden, bietet das markante Gästehaus eine Unterkunft für Teilnehmer:innen der zahlreichen Veranstaltungen, Projekttage, Seminare und Klassenfahrten. In einem Nebengebäude sind derzeit junge Menschen untergebracht, die ihre Auslandserfahrungen im Rahmen eines einjährigen „weltwärts“-Aufenthaltes bei artefact-Partnerorganisationen in Ostafrika reflektieren.
Empfangen werde ich von Werner Kiwitt, der Geschäftsführer der artefact gGmbH und seit 1991 Teil des Projektes ist. Der ungewöhnliche Name – in ausgeschriebener Form appropriate rural technologies Flensburg alternative cooperation team – gibt einen ersten Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Zentrums: Ins Leben gerufen wurde artefact an der Pädagogischen Hochschule (heute Europa-Universität) Flensburg, an der unter anderem Kiwitt Anfang der 1990er-Jahre den Studiengang „Technikpädagogik im Entwicklungsdienst“ (ab 1989 „ARTES“, heute „Energy and Environmental Management“) absolvierte. Kernthema war und ist die Frage, wie Technik aus verschiedenen Regionen und Kulturen ausgetauscht, an Rahmenbedingungen in Nord- wie Südländern angepasst und zur Unterstützung einer Nachhaltigen Entwicklung eingesetzt werden kann. „Aber wir verursachen eben hier in den Industrieländern 80 Prozent der Emissionen“, sagt Werner Kiwitt. „Wir haben uns deshalb auch gefragt: Was können wir vor Allem hier machen?“

Die Antwort darauf kann bis heute in Glücksburg, rund fünfzehn Kilometer nordöstlich von Flensburg, besichtigt werden. 1986 gründete eine Gruppe von Studierenden gemeinsam mit ihrem Professor Uwe Rehling, der den Posten des Ersten Vorsitzenden übernahm, einen Verein und nannten ihn artefact. „Drei Jahre später wurde in Glücksburg für sechzig Jahre ein Kartoffelacker in Erbpacht genommen“, berichtet Kiwitt. Am Stadtrand von Glücksburg sollte ein Ausbildungszentrum entstehen, das zunächst Studierenden aus südlichen Ländern praktische Erfahrungen ermöglichen und den Einsatz erneuerbarer Energien „in den sogenannten Entwicklungsländern“ vorantreiben sollte. 1995 wurde das Tagungs- und Gästehaus als Umweltbildungsort für die breitere Öffentlichkeit eingeweiht und seitdem Jahr für Jahr weiterentwickelt. Als ich die Anlage heute – rund fünfundzwanzig Jahre später – besuche, ist aus Rehlings Projekt ein beeindruckendes Bildungs-, Tagesausflugs- und Urlaubszentrum mit Gästen aus ganz Deutschland geworden.
„Das Gästehaus ist eines der ersten Dinge, die hier entstanden sind“, sagt Kiwitt, als wir unseren Rundgang im Eingangsbereich der Anlage beginnen. In den zwei Häusern, erbaut in Lehmarchitektur mit nordafrikanischen und indischen Wurzeln und versorgt durch Energie aus Sonne, Wind und Biomasse, finden bis zu 48 Gäste Platz. „Als wir die ersten Lehmkuppeln gemeinsam mit Fachleuten aus Indien gebaut hatten, bekamen wir nicht selten zu hören, dass das Ganze den ersten Winter nicht überleben werde“, schmunzelt Kiwitt. Das Gebäude steht noch heute, erhielt 1998 den Europäischen Solarpreis und ist längst zum Fixpunkt des Tagungs- und Urlaubsbetriebs geworden. „Es ist nicht möglich, das ganze Zentrum nur durch Schüler:innen, Bildungsteilnehmer und Tagesbesucher:innen zu finanzieren“, erklärt Kiwitt. „Das geht nur in Synergie mit dem Gästehaus“. Die Auslastung korreliert stark mit den Öffnungszeiten der Außenattraktionen: „Alle wollen im Sommerhalbjahr kommen, während im Winter niemand eine Klassenfahrt durchführen will.“ Die Gäste seien im Jahresdurchschnitt eine bunte Mischung aus Schüler:innen, Seminarteilnehmer:innen und Urlauber:innen. „Es gibt aber auch Handwerker, die zufällig hier landen und sagen: Ist das geil!“, so Kiwitt.



Die unkonventionelle Architektur des Gästehauses sollte sich als zukunftsweisend herausstellen. Bis heute erprobt artefact die Verwendung natürlicher Baustoffe, was unlängst auch vom Rat für nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung gewürdigt wurde: Das Ergebnis war die Produktion eines Films (zu sehen hier), der heute auch in einem kleineren Lehmgebäude direkt vor Ort angesehen werden kann. „artefact ist ein Ort, in den Ideen und Erfahrungen aus allen Kontinenten einfließen“, sagt Kiwitt mit Blick auf das Haus. Internationaler Austausch und Kooperation spielen bis heute eine große Rolle: 2019 leitete eine ehemalige Studentin des Flensburger Studiengangs, die heute GIZ-Projektdirektorin in der chinesischen Provinz Jiangsu ist, die Exkursion einer Delegation nach Norddeutschland, wo sie unter Anderem das von Kiwitt geleitete artefact-Zentrum besuchten. Das Ergebnis der Begegnung war ein Projekt zur Erstellung eines „Kompendiums von Methoden und Unterrichtsmaterialien zu Klimabildung auf Basis schleswig-holsteinischer Erfahrungen“, die in Zukunft in China zum Einsatz kommen sollen.
Das Außengelände von „artefact“ ist im Kern zweigeteilt. Rund um das Gästehaus finden sich einige Nebengebäude und der Klima-Erlebnispark; in einem weiteren Bereich ein bunter Mix aus Lern- und Veranstaltungsorten. Kiwitt zeigt mir solarbetriebene Duschkabinen und Kochstellen, einen Zeltplatz, Agrarflächen, ein Insektenhotel sowie ein für Seminare genutztes „Afrika-Haus“. Das größte Gebäude ist Austragungsort des jährlichen „SolarCups“, bei dem Teams mit selbstgebauten Solarfahrzeugen gegeneinander antreten. Das Außengelände kann für Klassenfahrten und Erlebnistage, aber auch von Tagesbesucher:innen genutzt werden. Texttafeln weisen auf die zahlreichen Bauten hin, in denen sich erneut der internationale Charakter der Anlage widerspiegelt: So versucht artefact im hinteren Bereich des Geländes beispielsweise, sogenannte „Terra preta“ herzustellen. Terra Preta (dt. „wertvolle Erde“) wurde in den 1960er-Jahren als ehemalige Praktik von indigenen Volksstämmen Amazoniens entdeckt, die als Antwort auf die nährstoffarmen Böden der Heimat selbst fruchtbare Erde hergestellt hatten. Das Konzept, Erde mit Holzkohle, Fäkalien oder Grünabfällen zu versetzen, wird heute auch von der ökologischen Landwirtschaft übernommen.




Hauptattraktion der gesamten Anlage ist zweifellos der Klima-Erlebnispark, der im Jahr 2000 eröffnet wurde und noch bis vor einigen Monaten als „Power Park“ bekannt war. Unter dem Motto Every Day For Future können die Besucher:innen an über 40 Stationen Energie in all ihren Formen kennenlernen und auch andere Aspekte des Klimawandels spielerisch erleben. Das „Kraftwerk Sonne“ setzt die Strahlungsleistung der Sonne mit der derzeit verbrauchten Energiemenge in Relation, während ein Modell der Umgebung die Auswirkungen eines Meeresspiegelanstiegs verdeutlicht. Ein begehbares Glashaus thematisiert das Grundprinzip des Treibhauseffekts, während sich eine Miniatur-Kohlehalde oder durch Muskelkraft angetriebene Apparaturen dem Thema Energie widmen. „Die Besucher, ob Kinder oder Erwachsene, sollen durch Ausprobieren und Erfahren lernen“, sagt Werner Kiwitt. „Hands-On-Erlebnisse stehen bei uns ausdrücklich im Mittelpunkt.“


Rund 15.000 Besucher:innen zählt das Zentrum derzeit pro Jahr. Feste staatliche Unterstützung erhalten Kiwitt und sein Team nicht: „Vieles hier ist nur möglich, wenn wir Projektmittel einwerben und ehrenamtliche Unterstützung erhalten“, sagt er daher. 2005 wurde ein Förderverein gegründet, der nicht nur für finanzielle Hilfe sorgt, sondern auch „immer wieder neue Ideen von außen einbringt“. Unerwartete Entwicklungen wie die Corona-Pandemie treffen den Park dennoch hart. „Das ist für uns eine mittelschwere Katastrophe“, sagt Kiwitt bei meinem Besuch, einige Wochen nach dem ersten Lockdown. 2020 musste nicht nur die Eröffnung des Klima-Erlebnisparks verschoben werden, sondern auch sämtliche Buchungen für die Ostersaison, mehrere Klassenfahrten und Buchungen verschiedener Jugendgruppen storniert werden. Teilzeit-Mitarbeitende mussten entlassen werden, während andere Kolleg:innen in Kurzarbeit geschickt wurden. „Für uns ist es nicht so einfach, all das zu verkraften“, sagt Kiwitt. Genutzt wurde die ungewohnte Leere für den Einsatz einer Dachdeckerfirma, die Bauschäden in Fassaden und Dachkonstruktionen beheben und eine Dachbegrünung vorbereiten konnten. Ein schwacher Trost.
Kiwitt blickt trotzdem positiv in Zukunft: „Es wird weiter gehen“, sagt er und redet bereits über konkrete Pläne, die sich in erster Linie um ergänzende Digitalformate drehen. „Das Ausprobieren mithilfe realer Gegenstände soll aber weiter im Mittelpunkt stehen“, betont er. „Das ist das Besondere hier.“

artefact ist seit mittlerweile über dreißig Jahren ein Ort, der verschiedene Gesellschaftsgruppen zusammenbringt und mit Sicherheit zahlreichen Menschen eindrückliche Erlebnisse beschert hat. Das bringt eine wichtige Vorbildfunktion mit sich: Bildungsorte dürften in der Nachhaltigkeitstransformation des 21. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen. Ob sich Werner Kiwitt daher wünscht, in Zukunft deutschlandweit Kopien seiner Anlage anzutreffen? „Nein“, sagt er, „das kann so nicht funktionieren. Voneinander lernen, sich austauschen – Ja. Aber jeder Standort, jedes start-up muss individuelle Lösungen entwickeln, je nach Rahmenbedingungen und Zielgruppe.“ Denn gerade durch ihre Vielfalt und Originalität sind Umweltbildungszentren erfolgreich und überzeugend. artefact ist eine wertvolle Blaupause, wie ein solcher Ort schlussendlich sogar zur Entwicklung konkreter Lösungen beitragen kann. Learning by doing.