Anfang Oktober ertönten in Venedig laute Sirenen. Das Tiefdruckgebiet Brigitte hatte Hochwasser verursacht, dessen prognostizierte Höhe von 130 Zentimetern das Ergreifen von Schutzmaßnahmen nötig machte. Auf den Straßen wurden erhöhte Laufstege angebracht und Türen mit Eisenplatten verschlossen. In sämtlichen Haushalten stellten die Bewohner*innen ihre Gummistiefel bereit, während sich Tourist*innen über Stornierungsmöglichkeiten ihrer Reise informierten. Zugänge zu Kellern wurden verbarrikadiert. Und dann war da noch eine völlig neue Sache: Rund um die venezianische Lagune stiegen 78 bewegliche Fluttore aus dem Wasser hervor, die den Pegel im Stadtzentrum prompt deutlich niedriger halten konnten als gewohnt. Es war ein historischer Moment: Zum ersten Mal war das höchst umstrittene und technisch einzigartige Sturmflutsperrwerk „MOSE“ zum Einsatz gekommen. Tourist*innen zückten ihre Smartphones und schossen eine Aufnahme nach der anderen, während soziale Netzwerke mit dem Hashtag #mose geflutet wurden. Das Sperrwerk arbeitete wie geplant, der berühmte Markusplatz lag teilweise sogar im Trockenen. „Es funktioniert!“, rief der von der Regierung beauftragte Projektleiter Giuseppe Fiengo später euphorisiert. „Wir haben einen großartigen Moment erlebt!“

MOSE steht für Modulo Sperimentale Elettromeccanico und ist der offizielle Name von Venedigs neuer Hochwasserschutzanlage. Die 78 Elemente des Sperrwerks verteilen sich auf drei Standorte, an denen Venedigs Lagune mit dem offenen Meer verbunden ist. Das Prinzip der Anlage ist simpel: An jedem der drei Zugänge wurden Betonfundamente im Meer versenkt und per Satellit punktgenau auf dem Boden platziert. Auf diesen Fundamenten sind Fluttore befestigt, die bei normalem Wasserstand mit Wasser gefüllt sind. Kündigt sich Hochwasser an, wird das Wasser mithilfe von Pressluftpumpen entfernt – die Tore steigen nach oben und können das steigende Wasser so bereits vor der Lagune aufhalten. Einer Pegeldifferenz von bis zu zwei Metern soll MOSE auf diesem Weg standhalten können. Die nackten Zahlen zeigen, um welch gewaltiges Vorhaben es sich handelt: Italiens größtes Infrastrukturprojekt der Nachkriegszeit, 3000 Mitarbeiter*innen während der Bauphase, 20 Millionen Wartungskosten pro Jahr.


Als ich Venedig zwei Monate vor dem ersten Einsatz der Sperranlage einen Besuch abstatte, ist die Stadt ungewohnt leer. Die erste Corona-Welle hat Italien noch immer fest im Griff. In der Regel zeigt sich Venedig von einer anderen Seite: Auf 60.000 Einwohner*innen kommen jährlich rund 20 Millionen Tourist*innen, die durch enge Gassen voller Souvenirläden und austauschbarer Restaurants schlendern und die berühmtesten Fotospots ansteuern. „Venedig ist zu einer Disney-Version von sich selbst geworden“, bemerkte der US-amerikanische Schriftsteller Jeff Goodell vor einigen Jahren äußerst passend. Auch Venedigs zweites großes Problem, die regelmäßig auftretenden Hochwasserereignisse, kann ich bei meinem Besuch nur erahnen. Die Gebäudewände sind es, die am eindringlichsten davon erzählen: An den liebevoll gestalteten Fassaden hat das Salzwasser starke Spuren hinterlassen.


Hochwasser ist in Venedig Normalität. Insbesondere im Herbst und Winter steigen die Pegel regelmäßig an, was sich in erster Linie durch das Auftreten eines bestimmten Wüstenwinds (den aus der Sahara stammenden Scirocco) erklären lässt. Seit Venedig im fünften Jahrhundert nach Christus auf rund einhundert sumpfigen Inseln im Meer gegründet wurde (Bewohner*innen des Festlandes waren vor den Invasionen der Westgoten und Hunnen geflohen), hat die Stadt mit dem Wasser zu kämpfen. Der Begriff acqua alta, der heute für besonders starke Hochwasserereignisse genutzt wird, stammt bereits aus dem achten Jahrhundert. Im sechzehnten Jahrhundert besaß Venedig ein „Wasserkomitee“, das gegen die Versandung der Lagune ankämpfen und damit das Hochwasserrisiko senken sollte. Ingenieur*innen starteten ein gigantisches Bauprojekt, im Zuge dessen die Flüsse Sile, Brenta und Piave großflächig umgeleitet wurden. Venedigs Lagune ist also schon lange ein unnatürliches Phänomen: Hätte alles seinen gewohnten Lauf genommen, würde sich auf den sumpfigen Inseln einer versandeten Lagune heute wohl keine Stadt mehr gründen lassen.
Dass rund fünfhundert Jahre nach dem Umleiten der Flüsse dennoch das Projekt MOSE notwendig wurde, liegt an gleich mehreren Entwicklungen. Im zwanzigsten Jahrhundert verschärften sich die Hochwasserprobleme Venedigs deutlich: Als rund um die Lagune Industriegebiete entstanden und dem Boden immer größere Mengen Grundwasser entnommen wurden, begann die Stadt zu sinken. Künstlich vertiefte Fahrrinnen für Fracht- und Kreuzfahrtschiffe ermöglichten es dem Meer, mit deutlich größerer Wucht in die venezianische Lagune zu stoßen. Und auch der schon heute steigende Meeresspiegel spielt selbstverständlich seine Rolle. In den vergangenen einhundert Jahren ist Venedig um fünfundzwanzig Zentimeter gesunken. Während im Jahr 1940 rund zehn Hochwasserereignisse pro Jahr aufgezeichnet wurden (von Hochwasser ist in Venedig die Rede, wenn das Wasser um mindestens 110 Zentimeter über den normalen Stand ansteigt), sind es heute über siebzig. Tendenz steigend.
Die dringende Notwendigkeit, das Weltkulturerbe Venedig vor dem drohenden Untergang zu bewahren, wurde spätestens im Jahr 1966 deutlich. Am 4. November erreichte acqua alta eine Rekordhöhe von 194 Zentimetern und setzte mehr als achtzig Prozent der Stadt unter Wasser. Die Reaktion war schnell und einschneidend: Das Entnehmen von Grundwasser wurde verboten, während ein „Special Law“ der Regierung Zahlungen garantierte, die Venedig mitsamt seiner Lagune langfristig schützen sollten. Verschiedene Ansätze wurden diskutiert, wie dies konkret gelingen könnte – darunter eine weitere Erhöhung von Straßen und Gebäude sowie die Errichtung eines gigantischen Damms, der Venedig von außen abschließen und die Lagune in ein künstliches Süßwasserreservoir verwandeln würde. Am Ende setzte sich allerdings eine dritte Idee durch: Ein technisch ausgeklügeltes Hochwassersperrwerk, das heute unter dem Namen MOSE bekannt ist.
Im Jahr 1984 wurden erste Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, die auch ökologische Voraussetzungen der zu schützenden Lagune in den Blick nahmen. Die venezianische Wasserbehörde errichtete in Zusammenarbeit mit der Universität Padua ein künstliches Becken, das alle Inseln, Sandbänke, Strömungen und Fahrrinnen Venedigs detailgetreu nachstellen sollte. Das MOSE-Modell arbeitete fehlerfrei, was den damaligen Ministerpräsidenten Bettino Craxi davon überzeugte, den Bau des Sperrwerks offiziell ankündigen zu können. Die Finanzierung sollte durch den italienischen Staatshaushalt, einen 1,5-Milliarden-Euro-Kredit der Europäischen Investitionsbank sowie Gelder Venedigs und verschiedener Stiftungen erfolgen. MOSE, so der damalige Plan, würde 1995 in Betrieb gehen.

Daraus wurde bekanntermaßen nichts. Als ich einer der MOSE-Barrieren im Jahr 2020 einen Besuch abstatte, befindet sich der Bau der Anlage in den letzten Zügen. Der breiteste Übergang zwischen Venedigs Lagune und dem offenen Meer befindet sich nördlich der Insel Lido, die sich als Strand-Resort und Schauplatz eines jährlichen Filmfestivals einen Namen gemacht hat. Ich erreiche Lido mit dem Wasserboot und steuere zu Fuß den nördlichsten Punkt der Insel an. Der Weg führt durch einen überraschend naturnahen Teil Lidos, der aus kaum besuchten Stränden, alten Wäldern und einem Vogelschutzgebiet besteht. Als ich schließlich am Ufer sitze und in die Ferne blicke, lässt sich die Anwesenheit von MOSE nur erahnen. Zwischen Lido und dem nördlich liegenden Jesolo befindet sich einigen Jahren eine künstliche Insel, die den Bau von zwei getrennten Barrieren aus jeweils zwanzig Fluttoren ermöglicht hat. Die mit Wasser gefüllten Tore befinden sich auf dem Boden. MOSE ist, sieht man von der künstlichen Insel ab, nahezu unsichtbar. An einem Tag wie diesem wirkt Venedigs Lagune ganz wie die alte.



Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Fertigstellung des Projekts derart lange verzögert hat? Zum angepeilten Eröffnungstermin im Jahr 1995 waren noch nicht einmal die Bauarbeiten für MOSE gestartet. Erst am 14. März 2003 gab Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit einem symbolischen Spatenstich den Startschuss, als neuer Einweihungstermin wurde 2012 genannt. Auch daraus wurde nichts: Der Bau wurde durch insgesamt vier Ermittlungsverfahren wegen Korruption massiv verzögert und mehrfach beinahe eingestellt. Insgesamt sollen rund 250 Millionen Euro Schmiergelder geflossen sein. Zahlreiche am Projekt beteiligte Personen wurden verurteilt und landeten teilweise im Gefängnis. Insbesondere die wirtschaftliche Beteiligung Berlusconis wurde in Italien zu einem großen Streitthema. Dass die Kosten des Baus parallel von zwei auf über sechs Milliarden Euro anstiegen, trug nicht zur Beruhigung der Situation bei. MOSE sei „ein Symbol für politische Gleichgültigkeit, Korruption und bürokratischen Wahnsinn“, titelte der Tagesspiegel im Jahr 2019. Am Ende wurde das Projekt dann doch fertiggestellt – sicherlich auch wegen der immer wieder auftretenden Hochwasserereignisse, die an den Zeitdruck einer Lösung erinnerten. Mit fünfundzwanzig Jahren Verspätung fand 2020 – wenige Wochen vor meinem Besuch auf Lido – der erste Testlauf statt. Im Oktober folgte die eingangs beschriebene Einweihung.

Abreißen werden die Diskussionen um das Projekt durch die erfolgreiche Einweihung mit Sicherheit nicht. MOSE steht nicht nur wegen der explodierten Kosten und Korruptionsskandale in der Kritik – auch die Sinnhaftigkeit der Anlage an sich wird regelmäßig hinterfragt. Anfang des Jahres stellte eine wissenschaftliche Studie fest, dass die Lagune bei einem Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimetern (dem im aktuellen IPCC-Bericht genannten Minimalwert) 187 Tage im Jahr geschlossen werden müsse, gelegentlich sogar mehrere Wochen am Stück. Das zieht gleich mehrere Probleme nach sich: Der Sauerstoff in der Lagune würde zuneige gehen (wir erinnern uns an die Flussumleitungen aus dem 15. Jahrhundert), was sowohl den Fischpopulationen als auch in der Gegend nistenden Vogelarten schadet. Zudem besitzt Venedig kein künstliches Abwassersystem: Würde MOSE über einen längeren Zeitraum geschlossen werden, könnten die Abwässer nicht mehr ins offene Meer abfließen und die Lagune innerhalb kürzester Zeit verseucht werden.
Der steigende Meeresspiegel, der bei der Planung des Projekts in den 1970er-Jahren nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, kann der Funktionsfähigkeit von MOSE zudem ganz allgemein einen Strich durch die Rechnung machen. Jeff Goodall unterhielt sich 2017 mit der Pressesprecherin des Projekts, Monica Ambrosini, und fragte nach genau diesem Zusammenhang. MOSE sei bis zu einem Meeresspiegelanstieg von sechzig Zentimetern in der Lage, Hochwasser zurückzuhalten, erklärte Ambrosini. (Erreicht acqua alta wie im Jahr 1966 eine Höhe von knapp zwei Metern, geht diese Rechnung bereits nicht mehr auf. Wir erinnern uns, dass MOSE Stand heute eine Pegeldifferenz von genau diesen zwei Metern herstellen kann). Was aber, fragte Goodell, wird bei einem Anstieg von mehr als sechzig Zentimetern passieren? Einem Anstieg, der einem Großteil aktueller Berechnungen zufolge im Laufe des Jahrhunderts unvermeidlich ist? „Dann wird das Wasser auch auf anderen Wegen in die Stadt kommen“, sagt Ambrosini und verweist auf die flachen Inseln Lido und Jesolo. Ihre Worte klingen hoffnungslos und unausweichlich. „Es gibt nichts, was wir dagegen tun können.“
Das ist nicht ganz wahr. Ideen für das von Goodell geschilderte Szenario existieren durchaus und wurden auch schon nach dem acqua alta von 1966 diskutiert. In der Regel drehen sie sich um die Errichtung einer sogenannten „Walled City“ und somit dem Aufbau eines die gesamte Lagune umschließenden Damms. Eine solche Konstruktion würde das Ökosystem der Lagune einschneidend verändern und eine grundlegende Umgestaltung von Venedigs Abwassersystem nötig machen. Die Verwandlung Venedigs in eine Disney-Attraktion, die Goodell schon vor den ersten MOSE-Tests so treffend beschrieben hat, würde eine neue Stufe erreichen. Und doch bleibt, sofern Venedig als Weltkulturerbe und historisch ungemein bedeutsamer Handelsknotenpunkt erhalten bleiben soll, möglicherweise keine andere Wahl.

MOSE unterscheidet sich von all den anderen Utopien und Konzepten, die bislang auf diesem Blog vorgestellt wurden. Sie versuchen nicht (wie es ein Unverpackt-Laden, ein Energiedorf oder eine verbesserte Fahrradinfrastruktur tun), das für die Umweltprobleme der Gegenwart verantwortliche Lebensmodell umzubauen und Alternativen aufzuzeigen. Wir haben es mit einem anderen Typ der Problemlösung zu tun, der den Umgang mit konkreten Folgen dieser Umweltproblemen adressiert. Vor dem Hintergrund steigender Meeresspiegel, der Verschiebung von Klima- und Vegetationszonen, Veränderungen im Wasserkreislauf und verstärkt auftretenden Extremwetterereignissen sind solche Lösungen absolut notwendig. Die Frage, ob Ansätze wie Venedigs Hochwasserschutzanlage oder aber Unverpackt-Läden und Energiedörfer die wertvolleren Konzepte sind, stellt sich also eigentlich nicht. Für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft werden wir – da sich die Verschärfung vieler Probleme schon heute nicht mehr verhindern lässt – beide brauchen.
Ob MOSE nun ein gelungenes Beispiel für diesen neuen Problemlösungstyp ist, kann diskutiert werden. Fakt ist, dass die Anlage Venedig in den kommenden Jahrzehnten vor vielen Hochwasserereignissen schützen wird. Aus Sicht eines Ingenieurs ist MOSE zurecht eine kreative und beeindruckende Konstruktion, die Gebäude und Menschenleben retten kann und wird. Aber das Fallbeispiel aus Venedig wirft auch Fragen auf, die durchaus ernst genommen werden sollten: Wie können wir damit umgehen, die klimatischen Voraussetzungen der nahen Zukunft – also beispielsweise die Höhe des Meeresspiegels – nicht im Detail zu kennen? Macht der Bau eines derart aufwändigen und langfristig angelegten Projekts wie MOSE vor diesem Hintergrund Sinn? Ist der Bau gerechtfertigt, wenn an vielen anderen Orten der Erde (mit einem Vielfachen an Einwohner*innen) die gleichen Probleme bestehen, aber keine finanziellen Mittel für entsprechende Maßnahmen zur Verfügung stehen? Und kann uns ein zu starker Fokus auf technische Lösungen in Sicherheit wiegen, also die Notwendigkeit von Konzepten zum Umbau unseres Alltags vergessen lassen? Wir sollten gute Antworten auf diese Fragen finden, wenn uns die Zukunft unserer Zivilisation am Herzen liegt.