Mitten in Mailand steht mit dem „Bosco Verticale“ ein Gebäude wie aus einer anderen Welt. Der Architekt Stefano Boeri, der mittlerweile in zahlreichen Ländern bewaldete Gebäude und Stadtviertel entwirft, sieht in seinem Bauwerk ein „Modell für den Städtebau der Zukunft“: Einen echten Blickfang, der gleichzeitig die Lebensqualität seiner Wohner*innen steigert und zur Lösung verschiedener Umweltprobleme beiträgt.
Mailands zweitgrößter Bahnhof, Stazione Porta Garibaldi, liegt im Nordosten der Stadt. Rund um den Bahnhof wächst mit „Porta Nuova“ seit rund zwanzig Jahren ein neues Stadtviertel in die Höhe, das bei meinem Besuch im August 2020 bereits aus dutzenden Hochhäusern, Kulturzentren, Shoppingmalls, Tiefgaragen sowie einer neuen Metrostation besteht. Das Viertel gilt als vorbildhaftes Stadtsanierungsprojekt: Wo heute IBM und hochkarätige Modeunternehmen sitzen und Italiens neues Finanz- und Dienstleistungszentrum entstanden ist, befand sich noch vor dreißig Jahren ein brachliegendes Industriegebiet mit Arbeiterwohnvierteln. 1997 sollte das geändert werden, als die Stadt gemeinsam mit dem US-Amerikaner Gerald Hines das „Porta Nuova Business District Project“ in Gang setzte. Elf Jahre später war ein Masterplan entstanden, der das Quartier in die Distrikte Porta Nuova Garibaldi, Porta Nuiva Varesine und Porta Nuova Isola einteilte und somit die angrenzenden Stadtteile als Namen nutzte. Für die Entwürfe der Gebäude konnten international angesehen Architekten wie Cesar Pelli, Nicolas Grimshaw oder Stefan Boeri gewonnen werden.


Als ich an meinem ersten Abend mit der Straßenbahn durch die Stadt fahre, steige ich spontan im Zentrum des Quartiers aus. Die erste Überraschung ist, dass es in dem Banken- und Immobilienviertel ein Nachtleben gibt: Auf dem zentralen Piazza Gae Aulenti findet eine Wasserlichtshow statt, die von mehreren hundert Menschen beobachtet wird. Die Terrassen der angrenzenden Restaurants und Eisdielen, die bis spät in die Nacht geöffnet haben, sind voll besetzt. Ich setze mich auf eine flache Steinbank und betrachte das Gebäude, das neben der Piazza in den Himmel wächst: Der 231 Meter hohe „UniCredit Tower“ gehört zu den ersten Neubauten des Viertels und ist insbesondere nachts ein echter Blickfang. Die beachtliche Ressourceneffizienz des Gebäudes umfasst einen minimierten Energie- und Wasserverbrauch, die Verwendung von aufgefangenem Regenwasser sowie die Nutzung wiederverwendbarer Baustoffe. Das Innere des Towers beruht auf einem innovativen Bürokonzept, das Teamarbeit und Kommunikation verbessern soll: Sogenannte „Open Spaces“ nehmen dreißig Prozent der gesamten Bürofläche ein und sollen für Geschäftstreffen und Freizeitgestaltung genutzt werden. Das Konzept erregte internationale Aufmerksamkeit und wurde in zahlreichen Zeitschriften und Magazinen vorgestellt.

Nach Mailand gekommen war ich eigentlich wegen eines anderen Gebäudes. Unweit des UniCredit Towers ragt mit dem „Bosco Verticale“ ein weiteres Hochhausprojekt in den Himmel. Die bewaldeten Wohngebäude des italienischen Architekten Stefano Boeri sind die mit Abstand bekanntesten Bauwerke des Viertels. Schon die nackten Zahlen sind beeindruckend: „Bosco Verticale“ besteht aus zwei Gebäuden, die 80 und 110 Meter hoch sind. Auf den Balkonen und Terrassen wachsen 900 Bäume und 2000 weitere Pflanzen in die Höhe, die dem „Vertikalen Wald“ seine berühmte Optik verleihen. Wären die Bäume auf eine Ebene gepflanzt worden, hätte dies eine bepflanzte Waldfläche von 7000 Quadratmetern ergeben. Die Zusammensetzung der Pflanzen wurde in einem zweijährigen Prozess von einer Mailänder Botanikerin ausgewählt, die bei ihren Überlegungen sowohl lokale Klimabedingungen als auch die Zielsetzung einer möglichst hohen Biodiversität miteinbezog. Die Pflanzen sind Gemeinschaftsbesitz der Bewohner*innen des Hauses und werden durch ein aufwändiges Verfahren gepflegt: Gärtner*innen seilen sich von einem Kran am Dach ab und beschneiden die Pflanzen viermal im Jahr. Ein Becken im Keller sammelt das Brauchwasser der Wohnungen auf und wird mithilfe eines aufwändigen Schlauchsystems zur Bewässerung genutzt. Boeris Gebäude befand sich seit der Fertigstellung im Jahr 2014 auf den Titelseiten von Magazinen in Nordamerika, China und Südafrika – es ist aber nicht nur der Anblick der Hochhäuser, der sie zu einer solchen Berühmtheit macht. Boeri sieht seine Gebäude als richtungsweisende Nachhaltigkeitslösung, als einen Vorschlag für den Städtebau der Zukunft. „Der vertikale Wald“, sagt er, „ist ein Projekt der städtischen Wiederaufforstung und ein Vorschlag für eine neue Beziehung mit der Pflanzenwelt.“



Boeri wuchs in Mailand auf und promovierte 1989 an der Universität in Venedig. 1993 gründete er das Architekturbüro „Stefano Boeri Architetti“, das mittlerweile Zweigstellen in Mailand (Italien), Shanghai (China) und Tirana (Albanien) hat. Von 2004 bis 2007 war Boeri Herausgeber des Architekturmagazins Domus, das seit einigen Jahren auch in deutscher Ausgabe erhältlich ist. Als er sich zu Recherchen in Dubai befand, sinnierte er über das rasante Wachstum der Wüstenstadt. Alle Wolkenkratzer, sagte Boeri in einem Interview zehn Jahre später, „waren mit Glas, Keramik oder Metall verkleidet, reflektierten also das Sonnenlicht und generierten dadurch Wärme.“ Zu diesem Zeitpunkt war sein Büro bereits mit der Planung zweier Wohntürme in Mailand beauftragt gewesen. Boeri kam die Idee zu einem Öko-Bauprojekt, „dessen Fassade nicht aus Mineralstoffen, sondern aus lebender Natur bestehen sollen.“ Die Liste an potenziellen Vorteilen war lang – das neuartige Gebäude würde ein Blickfang werden, die Luftqualität steigern und einen Beitrag zur Biodiversitätssteigerung leisten.
Boeris Konzept passte hervorragend in den neuen Stadtteil „Porta Nuova“. Sechs Jahre nach der Fertigstellung im Jahr 2014 ist klar, dass sein Konzept funktioniert: Durch die Bepflanzung der Türme wurden neue Lebensräume für Insekten und Vögel geschaffen, das Mikroklima in den Wohnungen und auf den Balkonen ist signifikant besser, und die Pflanzen mildern auch noch Lärm, Staub und Hitze. Boeri sieht seine Gebäude zudem als Trittsteinbiotop (stepping stone) zwischen den fragmentierten Lebensräumen einer Großstadt (seien es Parks, Alleen oder brachliegende Flächen). Und das ist nicht alles, sagt Boeri. „Natürlich habe ich meine Zahlen, ich kann sagen, dieses oder jenes Haus absorbiert soundso viele Tonnen CO2 und Schmutzpartikel, mindert Lärm, Hitze und Staub“, gab er in einem weiteren Interview zu Protokoll. „Es ist aber unmöglich, quantitativ zu bestimmen, wie sehr jeder einzelne Mensch von der Anwesenheit der Bäume profitiert.“ Für jeden bedeute das Gebäude etwas Anderes.


Bis zu meinem Besuch im Jahr 2020 ist der „Bosco Verticale“ nicht nur eine echte Touristenattraktion geworden – Boeris Gebäude hat auch den Status eines Leuchtturms umweltgerechten Bauens, der längst Signale in die ganze Welt sendet. Das Mailänder Architekturbüro hat nach Fertigstellung des Baus dutzende Aufträge für ähnliche Gebäude in Europa, Asien und Südamerika erhalten. 2017 wurde ein „vertikaler Wald“ in Huangzhou (China) fertiggestellt. Gegenwärtig werden die Viertel „Riverside“ in Tirana (Albanien) und „Urban Jungle“ in Prato (Italien) gebaut, die gleich aus mehreren begrünten Gebäuden bestehen. Und das Konzept der „Forest City“, das Boeri auf der Weltklimakonferenz in Paris (COP21) als „Modell einer nachhaltigen Stadt“ vorstellte, setzt dem ganzen noch die Krone auf. In Liuzhou (China) beginnt Boeris Büro in diesem Jahr mit dem Bau einer solchen Stadt, in der sämtliche Gebäude mit Bäumen und Pflanzen versehen werden sollen. Langfristig sollen in der Stadt 30.000 Menschen, 40.000 Bäume und mehr als eine Million Pflanzen ein Zuhause finden. Ein noch ambitionierteres Projekt ist die „Smart Forest City“ bei Cancun (Mexiko), in der nach Bauende 130.000 Menschen leben sollen. Auch hier ist Boeris Büro mit der Planung der begrünten Planstadt beauftragt. Die „Smart Forest City“ soll vollständig autark werden: Durch einen Ring aus Sonnenkollektoren und Feldern wird die Nahrungsmittel- und Energieversorgung sichergestellt, während die Wasserversorgung durch Seewasserentsalzungsanlagen gewährleistet wird.





Die Idee des „Vertikalen Waldes“, die im Doppelhochhaus „Bosco Verticale“ in Mailand ihren Anfang nahm, hat sich also im Flug über den Globus ausgebreitet. Die Vorteile von Boeris Gebäuden sprechen für sich und bieten einen entscheidenden Vorteil: Die Nachhaltigkeitslösung ist Teil einer Infrastruktur (nämlich Gebäuden und Wohnungen), die es zwangsläufig in irgendeiner Form geben muss. Und um die Vision des italienischen Architekten umzusetzen, ist es nicht von Nöten, den „Bosco Verticale“ dutzendfach zu kopieren oder ganze Planstädte wie in China oder Mexiko zu errichten (die sowieso eher als Modellprojekt denn als echte Nachhaltigkeitslösung fungieren). Auch auf deutlich kleinerer Ebene kann das Konzept umgesetzt werden – sei es durch die Bepflanzung eines Balkons oder der Begrünung einer Hauswand. Boeris kreative Methode zeigt, wie einfach durch das Begrünen von Gebäuden eine Verbesserung herbeigeführt werden kann. Und vielleicht gleichen Städte im Jahr 2100 ja tatsächlich eher der mexikanischen „Smart Forest City“ denn dem ultramodernen Mailänder Bankenviertel?
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