Ramsau bei Berchtesgaden gehört zu den beliebtesten Urlaubszielen der deutschen Alpen. Das 1700-Einwohner-Dorf liegt in einem Talkessel und wird von zahlreichen Bergmassiven eingerahmt, aus denen der majestätische Watzmann (mit 2713 Metern Höhe Deutschlands zweithöchster Berg) eindeutig herausragt. Die Region ist reich an lohnenden Ausflugszielen: Zwischen Watzmann und Hochkalter (einem weiteren Bergmassiv) liegt das Wimbachtal, dessen oberer Teil von riesigen Schuttströmen bedeckt wird und ein beliebtes Wanderziel darstellt. Drei Kilometer außerhalb des Dorfes befinden sich mit dem Hintersee (einem der klarsten Bergseen der Alpen) sowie dem aus einem Felssturz entstandenem Zauberwald zwei der beeindruckendsten Natursehenswürdigkeiten Bayerns. Und auch Ramsau selbst ist echtes ein Schmuckstück: In der Mitte des Orts liegt, flankiert von der reißenden Ramsauer Ache, die St. Sebastian-Kirche, die Monat für Monat von Tausenden Touristen abgelichtet wird.




Seit 2015 ist Ramsau unter dem Titel „Bergsteigerdorf“ bekannt und damit Teil einer landesübergreifenden Bewegung geworden. Schon viele Jahre zuvor habe der Österreichische Alpenverein „der Entwicklung in vielen Skiorten kritisch gegenübergestanden“, erinnert sich Ramsaus Tourismusdirektor Fritz Rasp an einen der Hintergründe. Mitte Juli unterhalten wir uns per Zoom über die Entwicklung, die Ramsau in den vergangenen Jahren genommen hat. Rasp sitzt zurückgelehnt in seinem Büro, das von einem beeindruckenden Bücherregal dominiert wird. „Orte, die eine andere Entwicklung als diese Skiorte nehmen, sollten unterstützt werden“, sagt er. So wurde 2008, unterstützt durch das Ministerium für ein lebenswertes Österreich und finanzielle Mittel aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, das Projekt „Bergsteigerdörfer“ ins Leben gerufen. Bei der Gründungsversammlung nahmen Vertreter*innen aus 16 österreichischen Orten teil, die anschließend zu den ersten „Modelldörfern“ wurden.
Bergsteigerdörfer verstehen sich als eine Art Gegenpol: Die berühmt-berüchtigten Bettenburgen, die insbesondere seit der Jahrtausendwende für Massentourismus, Apres-Ski-Partys und die technische Erschließung der Alpen stehen, werden als Fehlentwicklung eingeschätzt. In Bergsteigerdörfern, so die eigene Darstellung auf der Website, sei „das Bewusstsein über den notwendigen Einklang zwischen Natur und Mensch noch lebendig. Hier respektiert man natürliche Grenzen.“ Ein fünfseitiges Dokument fasst ausführlich zusammen, welche Kriterien für eine Zertifizierung mit dem Qualitätssiegel „Bergsteigerdorf“ erfüllt werden müssen: Das Dorf muss weniger als 2500 Einwohner haben, ein intaktes Ortsbild aufweisen und bei der Erschließung des Alpenraums „bewusste Zurückhaltung“ üben. Touristische Infrastruktur muss vorhanden sein, typische Kulturlandschaftselemente erhalten werden, und das Dorfleben von Vereinsarbeit geprägt sein (die vollständige Liste ist hier einzusehen). Die Kriterien sind eng mit den Zielen der Alpenkonvention verknüpft, die 1991 zwischen den acht Alpenstaaten und der Europäischen Union geschlossen wurde, und durchaus streng: 2011 wurde dem Gründungsmitglied Kals am Großglockner der Status Bergsteigerdorf aberkannt. Die Gemeinde hatte sich dazu entschieden, eine Skigebietszusammenführung mit einem benachbarten Ort sowie den Bau eines umstrittenen Chaletdorfes außerhalb des Ortskerns zu unterstützen.
In den vergangenen Jahren wurden erste Orte aus den Nachbarländern Deutschland, Italien und Slowenien in das Projekt integriert, sodass die Zahl der teilnehmenden Dörfer mittlerweile auf 29 gestiegen ist. Ramsau wurde am 16. September 2015 offiziell als erstes Bergsteigerdorf Deutschlands ausgezeichnet. Tourismusdirektor Rasp betont, dass er das Projekt von Anfang an aufmerksam verfolgt habe: „Ich bin mit der Idee ganz bewusst auf den Bürgermeister und den Gemeinderat zugegangen. Ich sehe das Ganze als gute Chance für unsere Gemeindeentwicklung.“ Die Idee stieß im Dorf auf großes Interesse; rasch wurden verschiedene Arbeitskreise zur Planung und Diskussion gebildet. Die Bürgerversammlung zu dem Thema sei „brechend voll“ gewesen, kritische Stimmen habe es kaum gegeben (die wenigen Kritiker hatten argumentiert, Ramsau könne sich mit der Zertifizierung und den damit verbundenen Auflagen „etwas verbauen“). Die entscheidende Gemeinderatsitzung sprach sich mit 13:0 Stimmen für eine Bewerbung aus, die im Maßnahmenkatalog aufgeführten Kriterien konnten ohne Nachbesserungen erfüllt werden. „Wenn nicht Ramsau, wer dann?“, kommentiert Rasp die Auszeichnung seines Dorfes schmunzelnd.


Ramsau verfolgte schon vor der Diskussion um das Bergsteigerdorf einen besonderen Ansatz. „Bei uns im Dorf herrscht eine gesunde Skepsis gegenüber Tourismus“, sagt Rasp. Qualität geht vor Quantität, Tourismus solle nicht „um des Tourismus willen entwickelt werden“. Ein großes Hotel sucht man in Ramsau schon immer vergebens, genauso wie die von einem Gemeinderat einmal als „lebenswichtig“ erachtete Seilbahn auf den Watzmann (Die Bahn wurde nie gebaut und stattdessen Deutschlands einziger Alpen-Nationalpark ausgewiesen). Trotz allem, das darf nicht vergessen werden, ist Ramsau mit vielen kleinen Unterkünften und über 300.000 Übernachtungen pro Jahr ein absoluter Touristenmagnet. Watzmann und Hochkalter, das Wimbachtal sowie der Hintersee mit dem angrenzenden Zauberwald gehören zu den beliebtesten Zielen der deutschen Alpen. Und das sei, wie der Tourismusdirektor ausdrücklich betont, auch schon vor der Zertifizierung im Jahr 2015 der Fall gewesen.
„Wir haben uns nicht beworben, um den Tourismus weiterzuentwickeln“, sagt Fritz Rasp deshalb. In vielen Projektdörfern Österreichs sei das völlig anders: Hier soll der Titel Bergsteigerdorf zum touristischen Marketing genutzt werden, was in vielen Fällen auch erfolgreich gelang. Teilnehmende Dörfer wie Mallnitz, Steinbach am Attersee und Vent konnten ihre Gästezahlen in den vergangenen Jahren deutlich steigern. Den Titel Bergsteigerdorf zu tragen bedeutet also nicht, auf die Entwicklung einer erfolgreichen Tourismusbranche zu verzichten – es geht um die Details, wie Tourismus schlussendlich gestaltet wird. Die Modewörter „Sanfter Tourismus“ oder „Öko-Tourismus“ kommen dem, was sich die österreichische Initiative vorstellt, ziemlich nahe. „Es geht darum, natürliche Grenzen zu berücksichtigen“, sagt Tourismusdirektor Rasp.
Ramsau nimmt dieses Prinzip sehr ernst und hat bereits zahlreiche Konzepte zur Umsetzung entwickelt. Ein Pionier ist der landesübergreifende „Almerlebnisbus“: Seit 2015 verbindet er den Hintersee über den Hirschbichlpass mit dem benachbarten österreichischen Bergsteigerdorf Weißbach und ermöglichst somit eine autofreie Anreise zu zahlreichen Startpunkten beliebter Wanderungen. Seit diesem Jahr wird durch den „Panoramabus“ rund um Ramsau eine weitere Strecke befahren. „Die ersten Erfahrungen lassen viel versprechen“, zieht Tourismusdirektor Rasp – trotz der Corona-Pandemie mit all ihren Folgen – eine positive Zwischenbilanz. „Wir sind wahnsinnig glücklich, dass der Bus so gut angenommen wird.“ Ein weiteres innovatives Konzept, das Ramsaus „Bergsteigerdorf“-Siegel mit Leben füllt, ist die Initiative „Ramsau Regional“: Hier soll regionalen Landwirt*innen die Möglichkeit gebotenen werden, ihre Waren ohne Mehrkosten auf einem mobilen Marktstand oder durch Auslagen in verschiedenen Geschäften anzubieten. „Das ist eine wunderschöne Entwicklung“, schwärmt Rasp über das Projekt, das 2018 ins Leben gerufen wurde.
Nicht zuletzt durch „Ramsau Regional“ sei „ein gewaltiger Ruck durchs Dorf gegangen, was die Kommunikation betrifft. Wir sind als Gemeinschaft noch einmal zusammengerückt.“ Ganz allgemein spielen Austausch und gegenseitiges Lernen in dem länderübergreifenden Zusammenschluss der 29 Dörfer eine große Rolle: Man stehe „ständig im Austausch“, sagt Rasp, und habe „mit ganz ähnlichen Themen und Problemen zu kämpfen“. Einmal im Jahr findet ein Treffen mit Vertreter*innen aus allen Bergsteigerdörfern statt. „Wir sind eine große Familie und lernen voneinander“, bringt es Rasp auf den Punkt. Ramsaus Vorreiterrolle bringt zudem noch einen weiteren Effekt mit sich: Mittlerweile sind in Bayern vier Dörfer zertifiziert worden, die sich vor der Bewerbung jeweils ausführlich über die Erfahrungen Ramsaus informiert hatten. „Es waren Bürgermeister und andere Vertreter bei uns zu Besuch“, sagt Rasp. „Wir haben natürlich bereitwillig Auskunft gegeben.“
Das Konzept Bergsteigerdorf kann durchaus als Vorbild gesehen werden, wenn es um die Implementierung nachhaltiger Alternativen geht. Das Projekt ist nicht nur kommunikationsfördernd, es hat auch einen starken partizipativen Charakter: In Ramsau läuft seit 2018 das mit Fördermitteln unterstützte Programm „Modell Bergsteigerdorf“, das in Form einer Ideenwerkstatt nachhaltige Zukunftsperspektiven für Ramsau erarbeiten soll. In weiteren Bergsteigerdörfern existieren ähnliche Programme. Ebenso spannend ist der Anspruch des Zusammenschlusses, die Vorbildfunktion der Mitgliedsdörfer immer weiter zu auszubauen: In dem eingangs genannten Maßnahmenkatalog existieren sogenannte „Zielkriterien“, die der Qualitätskontrolle und -verbesserung dienen. Diese Zielkriterien, die mit touristischer Infrastruktur, Alpinkompetenz (Sind Bergführer im Dorf zuhause? Können Touristen entsprechende Touren und Kurse buchen?) und partizipativer Betreuung von Landschaftsschutzgebieten zu tun haben, können auch erst in den Jahren nach der Zertifizierung angegangen werden. Das Konzept Bergsteigerdorf hebt sich so deutlich von ähnlichen Initiativen und Vorhaben ab.
In Ramsau sind gleich mehrere Entwicklungen zu beobachten, die dieses ständige Weiterentwickeln nötig machen. Der Urlaub in den Bergen werde immer beliebter, sagt Rasp, was sich unter anderem durch die „hohe Zahl 20- bis 30-jähriger, die mit Rucksack durch den Ort laufen“, ablesen lasse. Rasp freut sich über diesen Trend, nennt aber auch eine Reihe an Problemen: Wildcamping, Instagram-Fotospots, sich überschätzende Wanderer. „Die Bergwacht hat viel zu tun“, sagt er. Am Hintersee bereitet der Tagestourismus Probleme: Natürlich sei der See „sehr gut besucht, vor allem am Wochenende. Teilweise reichen die Parkplätze nicht mehr.“ Die Zone mit absolutem Halteverbot musste bereits ausgeweitet werden. Der Tagestourismus am Hintersee ist entscheidender Teil eines neuen Verkehrskonzeptes, das in diesen Monaten entwickelt wird. „Wir wollen nicht mehr Ausflugsverkehr in unserer Region haben“, nennt Rasp das zentrale Anliegen.



Wie in Ramsau mit Tourismus und Ortsentwicklung umgegangen wird, hat viele Interessenten hervorgerufen. Das mediale Interesse sei, insbesondere seit 2015, sehr hoch – Ramsau sei ein wenig „zum Zeichen eines anderen Tourismus geworden.“ Ob Rasp hofft, dass der Ramsauer Weg kopiert wird und in den Alpen noch mehr Bergsteigerdörfer entstehen? „Das ist nicht das Kernanliegen“, sagt er. Man sehe das eigene Handeln eher als „modellhafte Entwicklung“, das in anderen Dörfern entsprechend der lokalen Voraussetzungen umgesetzt werden müsse. Was ist Ramsau funktioniert, kann an anderen Orten nicht umsetzbar oder ganz einfach nicht sinnvoll sein. Die Kriterien der Bergsteigerdörfer seien zudem „sehr streng“, was eine starke Ausweitung des Konzepts verhindern dürfte: Allein die 2500-Einwohner-Hürde sorgt dafür, dass Rasp in Bayern „vielleicht ein oder zwei Dörfer“ sieht, „die noch dazukommen könnten.“
Das Zeichen, das Ramsau und die weiteren Bergsteigerdörfern mit ihrer Entwicklung setzen, ist dennoch ungemein wichtig. Sanfter Tourismus ist, wenn auch langsam, auf dem Vormarsch. „Am Thema Nachhaltigkeit“, sagt Rasp, „kommt heute kein Touristiker mehr vorbei. Wir sehen, dass Wille und Bereitschaft gestiegen sind.“ Ich nenne Orte wie Ischgl oder Sölden, die beim Einschlagen einer solchen Entwicklung Schwierigkeiten haben dürften. „Ich bin dankbar, dass wir diese Entwicklung nicht genommen haben“, sagt Rasp sofort, als das Beispiel Ischgl fällt. Ramsau und Ischgl ähneln sich von den Grundvoraussetzungen stark, haben beide knapp 2000 Einwohner – in Österreich hat sich allerdings ein Zentrum mit fünfmal so vielen Betten und einer gewaltigen Infrastruktur herausgebildet. „Wenn das alles schon da ist, ist nachhaltiger Tourismus natürlich schwierig“, sagt Rasp. „Da ist es dann auch eine Glaubwürdigkeitsfrage.“
Wichtig ist es hier, am Beispiel Ramsaus den Erfolg alternativer Konzepte zu sehen. Viele Menschen verbringen ihren Urlaub ganz bewusst an Orten wie Ischgl oder Sölden, und solche Orte wird es auch in Zukunft geben – dennoch ist eine Alternative auf dem Vormarsch, und der Zusammenschluss der Bergsteigerdörfer ist hier ein wirklich spannendes Fallbeispiel. Dadurch, dass Kommunikation, Partizipation und fortlaufende Qualitätskontrolle und -verbesserung eine wichtige Rolle spielen, konnte die Initiative auch aus wissenschaftlicher Sicht zu einem echten Vorreiter der Nachhaltigkeitstransformation werden. Wie ein Bergsteigerdorf in der Praxis aussehen und auch touristisch funktionieren kann, wird in Ramsau bestens sichtbar. Die dortige Entwicklung hat nur Gewinner und dürfte noch viele Dörfer und Städte zum Nachahmen anregen. Das ist zumindest zu hoffen.