Unverpackt-Läden sind längst zu einer etablierten Nachhaltigkeitslösung geworden. Jahr für Jahr werden weitere Neueröffnungen verzeichnet, Kunden- und Lieferantenzahlen steigen konstant an, und auch große Supermarktketten haben das Konzept in ihr Portfolio übernommen. Verpackungsfreies Einkaufen ist dabei zumindest in Deutschland noch ein relativ junger Trend, der 2014 in Schleswig-Holstein seinen Anfang nahm. Nach schwierigen Anfangsjahren hat sich der dortige Unverpackt-Laden zu einem echten Besuchermagneten mit Vorbildfunktion entwickelt.
Hinweis: Alle Formulierungen in diesem Artikel sind geschlechterneutral zu verstehen
Marie Delaperrière, Gründerin und Leiterin des Unverpackt-Ladens in Kiel, stammt aus der Nähe von Toulouse. Ihr Weg nach Schleswig-Holstein verlief in mehreren Etappen: Erst durch Frankreich, dann durch Deutschland, immer weiter in Richtung Norden. Als Logistikerin arbeitete Marie in Erlangen und in Kiel, wo die fünfköpfige Familie Delaperrière schließlich ihren neuen Lebensmittelpunkt fand. Sie blieb, obwohl das Siemens-Projekt, für das Marie nach Kiel geschickt worden war, abgebrochen werden musste. „Der Gedanke, sich selbstständig zu machen, war damals schon da“, sagt Marie acht Jahre später, als wir im Café ihres Unverpackt-Ladens in der Kieler Adelheidstraße sitzen. Ihre Entscheidung hat sie nie bereut, die Wanderung nach Norden ist mit der Gründung ihres eigenen Geschäfts erst einmal beendet worden.
Ein Artikel in der französischen Zeitung Le Monde sorgte im Jahr 2012 für die passende Idee. Eine Journalistin hatte über die „Müllfrei-Pionierin“ Bea Johnson berichtet, die es gemeinsam mit ihrer Familie geschafft hatte, drei Jahre lang keinerlei Müll zu produzieren (der Originalartikel ist hier nachzulesen). Marie, die ihren „Aha-Effekt“ zum Thema Kunststoffe schon durch die Diskussion um die damals in Babyflaschen enthaltene und seit 2011 verbotene Chemikalie Bisphenol A (BPA) hatte (Marie kaufte zu dieser Zeit Babyflaschen für ihre Tochter), inspirierte der Le Monde-Artikel so sehr, dass daraus eine Geschäftsidee wuchs. Während Ketten wie Biocoop in Frankreich oder Unpackaged in London schon zu dieser Zeit unverpacktes Einkaufen anboten, war das Konzept in Deutschland noch vollkommen fremd. Marie sah diese Marktlücke, sah – von Johnson inspiriert –, welchen positiven Beitrag sie mit dem Konzept leisten konnte, und machte sich an die Planung. 2013 erstellte sie den Businessplan für Deutschlands ersten Unverpackt-Laden und gewann im Herbst einen lokalen Gründerwettbewerb.


Der Weg bis zum Unverpackt-Boom, wie wir ihn heute im Jahr 2020 erleben (Maries Businessplan kalkulierte kurz vor der Gründung mit 70 Kunden am Tag – mittlerweile sind es etwa 170), war dennoch ein steiniger. Die Suche nach einer geeigneten Immobilie sei „ganz schwierig“ gewesen: „Niemand kannte das Konzept. Meine Idee war vielen Vermietern viel zu unsicher.“ Am Ende fand Marie trotzdem einen Laden und machte sich, finanziert unter Anderem durch ihre Abfindung bei Siemens, an die Renovierung. Im Jahr 2014 öffnete Deutschlands erster Unverpackt-Laden dann seine Tore.
„Der Anfang war wirklich nicht einfach“, erzählt Marie Delaperrière heute, rund sechs Jahre nach der Eröffnung. „Ich hatte keine Ahnung, wie man einen Laden führt. Für die Kunden war das Ganze völlig neu – das Preise kalkulieren, das Einschätzen von Mengen. Die ersten beiden Jahre waren wirklich nicht so schön.“ Doch Schritt für Schritt gewann das Konzept an Befürwortern, und die Kundenzahlen in Maries Laden stiegen an. Heute befindet sich „Unverpackt Kiel“ bereits am dritten Standort – die Läden wurden jedes Mal größer, bekannter und erfolgreicher. Aus zwei Mitarbeitern sind zehn geworden, die Kundenzahlen haben sich mehr als verdreifacht, und die Öffnungszeiten ähneln mittlerweile einem gängigen Supermarkt (Montag bis Freitag 10-19 Uhr und Samstag 9-14 Uhr). Parallel dazu wuchs auch die Unverpackt-Szene im Allgemeinen; zunächst langsam, dann immer schneller. Zu einem echten Boom kam es letzten Jahr: „2019 war unglaublich“, erinnert sich Marie. „Schon im Juni hatten so viele Läden eröffnet wie im gesamten Jahr zuvor.“ Die Bewegung sei „bekannter geworden, das Bewusstsein ist gestiegen.“ Oder, wie es „Madame Unverpackt“ kurz und knapp zusammenfasst: Man habe es mit einer „Erfolgsgeschichte in sehr kurzer Zeit“ zu tun. 2019 hatten in Deutschland über einhundert Läden eröffnet; inklusiver aller Niederlassungen, die sich derzeit in der Planung befinden, werden es bald zwei- bis dreihundert sein.
Der Kieler Laden ist also, wenn wir die Hintergrundgeschichte für einen Moment ausklammern, heute gar nicht mehr so besonders. Marie bezeichnet ihr Geschäft „primär als Lebensmittelladen“, das eine Palette von mehr als 500 Produkten führt: Getreide, Teigwaren, Backzutaten, Hülsenfrüchte, Ölsaaten, Nüsse, Öle, Essig, Gewürze, Antipasti, Tee, Kaffee, Eier, Milchprodukte, Wurst, Obst, Gemüse, Trockenfrüchte, Getränke, Süßes, Salziges, Schokolade, Reinigungsmittel, Körperpflegeprodukte sowie Zubehör für das müllfreie Leben. Eingekauft wird mit dem dreistufigen Konzept, das sich mit der Zeit in ganz Deutschland etabliert hat: Die Produkte werden lose und in Spendern angeboten, aus denen Kunden die gewünschte Menge in mitgebrachte Behälter abfüllen und an der Kasse zahlen können. Unverpackt-Läden reduzieren ihren Müll dadurch zwar nicht auf null, da ein Großteil der Ware nur verpackt geliefert werden kann. Maries Laden bemüht sich allerdings, in größtmöglichen Mengeneinheiten einzukaufen. Zudem werden Waren, die kurz vor dem Ablaufdatum stehen, zunächst vergünstigt angeboten und dann an Foodsharing Kiel weitergegeben.



Marie ist nicht nur Gründerin des ersten Unverpackt-Ladens im Land, sondern auch eine wichtige Architektin der daraus entstandenen Bewegung. Seit 2015 führt sie Workshops für potenzielle Gründer durch, die an anderen Standorten einen ähnlichen Laden eröffnen wollen. Ende 2019 wurde der fünfundzwanzigste Workshop durchgeführt, aus denen bislang rund 50 neue Geschäfte hervorgegangen sind. Die Mitarbeiter des Kieler Ladens führen „Do-It-Yourself“(DIY)-Workshops durch, bei denen in erster Linie Kosmetikprodukte thematisiert würden. Und Marie selber hält seit 2015 eine Reihe an Vorträgen, die sich um den „Zero Waste“-Lebensstil ihrer Familie drehen. Gemeinsam mit ihrem Mann Marc und den Kindern Antoine, Camille und Mathilde hat die Ladenbesitzerin ihre Lebensweise radikal verändert und die Leitbilder der Unverpackt-Bewegung in den eigenen Alltag integriert (mit dem Thema „Zero Waste“ wird sich BALANCE an anderer Stelle beschäftigen). Zuletzt wirkte der Kieler Laden bei der Konzeption zahlreicher Studien mit, die sich mit einer möglichen Verringerung von Verpackungsmüll beschäftigen. Aus Marie Delaperrières Projekt ist also deutlich mehr als ein simples Lebensmittelgeschäft geworden – eine deutschlandweite Bewegung mit großem Potenzial, die sich noch immer im Wachstum befindet.
Die Kundschaft im Kieler Laden sei „bunt gemischt“: Vom barfüßigen Studenten bis zur Familie mit Kindern ist alles dabei. „Das ist ein Zeichen, dass dieses Thema alle etwas angeht und diese Art von Einkaufen auch für alle funktioniert“, sagt Marie. Von Anfang an habe ihr Laden eine treue Stammkundschaft gehabt, die während der ersten Monaten der Corona-Pandemie um zahlreiche Neukunden ergänzt wurde: „Wir waren oft die letzte Hoffnung, irgendwo noch Trockenhefe oder Mehl finden zu können“, sagt Marie schmunzelnd. „Vielleicht kommen einige ja wieder. Wir haben unseren Bekanntheitsgrad auf jeden Fall noch einmal gesteigert.“ Schwierig sei während dieser Monate auch der Kontakt zu den zahlreichen Lieferanten des Ladens gewesen – ganze 70 sind es mittlerweile im Fall des Kieler Geschäfts. „Es wäre auch möglich gewesen, das Ganze über drei oder vier Großanbieter zu regeln“, erinnert sich Marie an die Konzeption ihres Business-Plans. „Aber wir wollten diesen direkten Kontakt haben. Wir nehmen bewusst mehr Arbeit auf uns.“ Der Markt sei seit 2014 stark gewachsen, was die Entwicklung der Szene ein weiteres Mal unterstreiche. „Viele Lieferanten sind auf das Konzept umgestiegen“, sagt sie. „Mittlerweile kommen Unternehmen gezielt auf uns zu und bieten ihre Produkte an.“

Das Konzept, das die Unverpackt-Läden in Kiel und vielen anderen Städten umsetzen, ist einfach und dennoch genial. Es wird ein direkter Beitrag zur Vermeidung von Verpackungsmüll und Stärkung regionaler Erzeuger geleistet (genau wie viele andere Ladenbesitzer achtet Marie stark auf Regionalität ihrer Lieferanten). Wahrscheinlich noch wichtiger ist die Bewusstseinsänderung, die mit der Bewegung einhergeht: Unverpackt-Läden zeigen auf, wie wenig intelligent die Art und Weise ist, auf der wir derzeit Lebensmittel vom Erzeuger zum Verbraucher vermitteln. Die Vorträge und Workshops, die von Maries Laden organisiert werden, leisten hier wichtige Arbeit. Auch für die Kunden selbst bietet das Konzept Vorteile, können doch individuelle Mengen ausgewählt und somit Geld eingespart werden. Nicht zuletzt weisen viele Läden auf eine „Entschleunigung des Einkaufserlebnisses“ hin – der Kunde setze sich viel intensiver mit seinen Lebensmitteln auseinander. Das Fazit ist eindeutig: Unverpackt-Läden sind eine Nachhaltigkeitslösung, die für alle Seiten ausschließlich Vorteile bietet. Lieferanten, Verkäufer (alle mir bekannten Unverpackt-Läden in Deutschland laufen ausgesprochen gut), Kunden und Umwelt profitieren gleichermaßen.
Einer weiteren Verbreitung des Konzeptes steht also eigentlich nichts im Wege. Die Zahl der Läden in Deutschland stieg schon in den vergangenen Jahren immer stärker an, und auch verschiedene Supermarktketten beginnen damit, sogenannte „Unverpackt-Abteilungen“ einzurichten. „Wir fangen gerade an, über eine Unverpackt-Branche zu reden“, sagt Marie Delaperrière, die weiteres Potenzial in ihrem Konzept „definitiv gegeben“ sieht. „Ich glaube, dass wir erst am Anfang stehen. Insbesondere in den Supermärkten können noch deutlich mehr solcher Abteilungen entstehen.“ Was 2014 als mutiges Experiment in Kiel begann, hat sich also in nicht einmal sechs Jahren zu einem echten Trend entwickelt, der noch weiterwachsen kann und das auch wird. Obwohl Unverpackt-Läden zur Lösung vergleichsweise harmloser Umweltprobleme beitragen, haben wir es mit einer wirklich inspirierenden Nachhaltigkeitslösung zu tun. Aus dem Artikel über Bea Johnson und Maries spontaner Idee ist etwas ganz schön Großes entstanden.
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