Leipzig – Der Bürgerbahnhof

Gemeinschaftsgärten können in Ernährungssystemen der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Mit dem HILDEGARTEN wird ein solches Projekt seit einigen Jahren auf dem „Bürgerbahnhof Plagwitz“ in Leipzig umgesetzt – einem urbanen Experimentierlabor, das auf dem Gelände eines ehemaligen Güterbahnhofs entstanden ist. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass der Garten gleich mehrere Vorteile mit sich bringt und eine echte Nachhaltigkeitslösung ist.

Die Stadtteile Plagwitz und Lindenau sind wahrscheinlich der derzeit angesagteste Teil von Leipzig. Aus einem von monotonen Kanälen und Eisenbahnschienen durchzogenen Industriegebiet hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein wirklich besonderes Viertel entwickelt, das Bewohner und Touristen gleichermaßen begeistert.  Auf den Kanälen fahren Kanus und Kayaks an alten Industriegebäuden vorbei, in ehemaligen Fabrikgebäuden sind Museen und Kunstateliers entstanden, und auf der zentralen Karl-Heine-Straße reihen sich Restaurants aus aller Welt aneinander. Am Rand des Viertels, nahe der S-Bahn-Station Plagwitz, befindet sich der sogenannte „Hildegarten“, dem ich im Juni 2020 einen Besuch abstatte.

Der Hildegarten ist Teil eines größeren Projekts, das Plagwitz seit dem Jahr 2009 noch stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt hat. Bis Anfang der 1990er-Jahre beherbergte das ortsansässige Industriegebiet einen der größten Güterbahnhöfe Europas, der eine Fläche von 27 Hektar einnahm. Mit dem schleichenden Niedergang des Industriegebiets nahm auch der Umschlag am Bahnhof ab, sodass das Gelände schließlich stillgelegt wurde und bis ins Jahr 2009 brachlag. „Ich kenne das ganze Areal hier noch als Bahnhof“, erzählt Gerlinde Meyer, Koordinatorin des Hildegartens, als wir am Montagmorgen auf zwei selbstgebauten Holzsofas sitzen. Der Gemeinschaftsgarten befindet sich einem etwa einem Hektar großen Teil des ehemaligen Bahnhofs, der nach der Stilllegung zum sogenannten „Bürgerbahnhof Plagwitz“ umgestaltet wurde. Ende der 2000er-Jahre sei klar gewesen, „dass der Bahnhof verschwindet und ganz viel Fläche frei wird“, erinnert sich Gerlinde. „Es gab extrem viele Ideen, was hier entstehen könnte. Zahlreiche Gruppen haben sich gemeinsam organisiert und zusammen mit dem Stadt Leipzig Ideen entwickelt.“

2009 wurde die Initiative Bürgerbahnhof Plagwitz (IBBP) gegründet, die schon früh das langfristige Ziel formulierte, den ehemaligen Güterbahnhof Plagwitz „in einen lebendigen Teil des Stadtraums“ zu verwandeln. Stück für Stück kam die Gruppe diesem Ziel näher: Durch neu angelegte Fuß- und Radwege wurde das Areal für die Öffentlichkeit erschlossen, während immer mehr Projekte durch die fortlaufende Finanzierung durch Mittel der Stadt und Spenden verschiedener Förderprogramme konkret geplant und umgesetzt werden konnten. 2013 wurde am nördlichen Ende des Bahnhofs der „Nordkopf“ mit Boulderfelsen und Riesenschaukel eingeweiht, 2016 zogen mit dem Bauspielplatz und dem Hildegarten erste Bürgerprojekte auf die Fläche ein. Im Jahr darauf entstanden ein Obsthain, ein Obstgarten und die „Wall of Fame“, eine besprühbare Graffitiwand von beeindruckender Größe. 2018 eröffnete das Café „Heiter bis Wolkig“, ehe im vergangenen Jahr ein multifunktionales Ballspielfeld in Betrieb genommen werden konnte. Als ich den Bürgerbahnhof im Juni 2020 besichtige, ist also schon eine Vielzahl von Ideen umgesetzt worden.

Das bis zu fünf Meter hohe Klettergerüst, das auf dem „Bauspielplatz“ entstanden ist. Seit 2016 können hier Kinder von 6 bis 13 Jahren eigene Bauwerke aus Recycling- und Naturmaterialien errichten.
Das Café „Heiter bis Wolkig“ ist gleichzeitig ein beliebter Treffpunkt und wichtiger Veranstaltungsort.
Das Multifunktionsfeld wurde im vergangenen Jahr in Betrieb genommen.
Als eine der ersten Attraktionen des Bürgerbahnhofs wurde 2013 diese Schaukelanlage in Betrieb genommen.
Auf der anderen Seite des sogenannten „Nordkopfes“ laden Boulderfelsen zum Klettern ein.
Alte Gebäude des Güterbahnhofes wurden in Wohnungen umgewandelt.

„Die Leute sind dankbar für diesen Ort“, sagt Gerlinde Meyer heute, elf Jahre nach den ersten Bauarbeiten. „Es treffen viele verschiedene Personengruppen aufeinander, die nachbarschaftliche Gemeinschaft wächst enorm.“ Nicht nur die Bewohner aus Plagwitz, Lindenau und Kleinzschocher (einem weiteren angrenzenden Stadtteil) laufen sich auf dem Gelände des Bürgerbahnhofs über den Weg – längst werden die zahlreichen Attraktionen auch von Touristen besucht. Auch ich selber stieß bei eine Städtetrip im Jahr 2018 rein zufällig zum ersten Mal auf den Bürgerbahnhof, als ich einen Spaziergang durch Plagwitz und Lindenau unternahm. „Die Mischung der Dinge ist für die Leute besonders interessant“, betont Gerlinde. Die zahlreichen Projekte, so ihre Schlussfolgerung, profitieren durch die unmittelbare Nachbarschaft gegenseitig voneinander. „Wenn die Eltern gerade das Café besuchen, können die Kinder in der Zeit auf dem Bauspielplatz vorbeischauen! “ Ganz allgemein kann sich jeder und jede in den Projekten des Bürgerbahnhofs engagieren und eigene Ideen einbringen. Die IBBP sieht das geschaffene Areal als „urbanes Labor“, in dem „Dinge einfach mal ausprobiert werden können“. Ein wesentlicher Teil des Geländes ist im Jahr 2020 noch nicht bebaut worden, sodass in den kommenden Jahren weitere Konzepte auf ihre Umsetzung warten.

Unbebaute Fläche auf dem Gelände des Bürgerbahnhofes.

Der Hildegarten hat sich währenddessen längst als fester Teil des Stadtteils etabliert. Wie an vielen anderen Orten auch – Urbane Gemeinschaftsgärten gibt es mittlerweile in zahlreichen Groß- und Kleinstädten – erfreut sich das Konzept großer Beliebtheit. Immer mehr Leipziger wollen sich an dem Projekt beteiligen, die Nachfrage ist „riesig – wir können im Moment gar nicht alle aufnehmen“. Hinter dem Bild, das sich mir im Juni 2020 bietet, stecken dabei mehrere Jahre harte Arbeit. „Am Anfang hatten wir harten Boden und jede Menge Disteln“, sagt Gerlinde. „Jetzt wird es jedes Jahr noch schöner.“ „Eigentlich gar nicht zu glauben“, erwidere ich und sehe mich um. Etwa 50 Parteien pflegen im Hildegarten derzeit ein Beet. Solche Parteien können Familien oder WGs sein, aber auch ganze Häusergemeinschaften oder ganz andere Gruppen wie der angrenzende Bauspielplatz. Zudem gibt es gemeinsame Anbauflächen, die Teil des Projekts „Essbare Stadt“ sind – einer Initiative, die sich mit dem Anbau von Lebensmitteln in der Stadt beschäftigt und in ganz Deutschland Ortsgruppen besitzt. Als Teil des Vorhabens wurden auf dem Gelände des Bürgerbahnhofs bereits 35 öffentlich zugängliche Obstbäume gepflanzt. Insgesamt sind mehr als 200 Leute am Betrieb des Hildegartens beteiligt, Tendenz steigend. „Das sind Leute, die Interesse an Gärtnern und Gemeinschaft haben“, fasst Gerlinde zusammen. „Es geht hier am Ende nicht nur um die großen Erträge.“

Der Leipziger Hildegarten.
Auf dem Gelände befindet sich auch ein kleiner Kinderspielplatz.
Tiefer im Gelände …
… befinden sich unter Anderem die Gemeinschaftsbeete, die Teil des Projekts „Essbare Stadt “ sind.

Das Konzept Gemeinschaftsgarten bietet eine Reihe an Vorteilen, die in klassischen Schrebergartenanlagen nicht gegeben sind. „Wir verstehen uns als Ort, an dem Wissen geteilt wird“, nennt Gerlinde ein wichtiges Beispiel. Der Hildegarten wird regelmäßig von Schulklassen und Kindergärten genutzt, dient außerdem als Fläche für regelmäßige Feste und Veranstaltungen. Jahr für Jahr wird eine Reihe an Workshops angeboten – in nächster Zeit stehen die Themen Permakultur, Baumpflege, Wildkräuter, Kompost sowie das Binden von Blumenkränzen auf dem Programm. Durch Pflanzenbasare und Saatguttauschaktionen enthält das Konzept des Hildegartens ausgewählte Elemente eines Sharing-Systems. Und auch das alltägliche Gärtnern bringt viele Erkenntnisse mit sich: „Kinder, die regelmäßig hierherkommen“, betont Gerlinde, „wachsen auf und wissen so von Anfang an, wie beispielsweise eine Kartoffel angebaut wird.“ Bei unserem Rundgang über die Anlage zeigt sie mir ein Gemüsebeet, das mit einer speziellen Anbautechnik aus Marokko bewirtschaftet wird. Auch erfahrene Gärtnerinnen und Gärtner können hier noch etwas lernen.

Die „Graben-Anbautechnik“ aus Marokko, zu sehen im linken Beet.

Der gesteigerte Gemeinschaftsgeist ist nicht die einzige positive Folge, die das Leipziger Projekt nach sich zieht. Gerlinde versteht den Hildegarten als Ort, der ganz allgemein zum Nachdenken über Ernährung und Landwirtschaft führen kann, der „Akzeptanz und Interesse für das Thema schafft.“ Obwohl der Garten nicht der größte ist, sei es möglich, „Bewusstsein für die Möglichkeiten urbaner Landwirtschaft zu schaffen. Viele Dinge passieren erstmal im Kleinen.“ Den Hildegarten beschreibt sie als „positives Signal, sich beteiligen zu können.“ Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist, dass das gesamte Bürgerbahnhof-Areal eine wichtige Luftschneise in den südlichen Teil Leipzigs darstellt, was „der Stadt bei der Planung sehr wichtig“ gewesen sei. Gärten sind also auch Grünfläche, die für die Luftqualität und den Wärmehaushalt von Städten eine entscheidende Rolle spielen.

Der Bürgerbahnhof – hier zu sehen der Obstgarten neben dem „Heiter und Wolkig“ – ist schon aufgrund seiner länglichen Grundfläche eine wichtige Luftschneise für die Stadt Leipzig.

Um es auf den Punkt zu bringen: Der Leipziger Hildegarten – und Gemeinschaftsgärten in anderen Städten ebenso – schaffen es, eine Reihe an nennenswerten Vorteilen zu kombinieren. Es geht um Gemeinschaftsgeist und das Teilen, Grünflächen und Luftqualität sowie (wahrscheinlich besonders wichtig) um Bewusstsein und Bildung. Die vergleichsweise niedrigen Erträge, die ein kleiner Betrieb wie der Hildegarten abwirft, sind vor diesem Hintergrund beinahe zu vernachlässigen – wenngleich es für die Mitglieder zweifellos ein absoluter Höhepunkt ist, das angebaute Obst und Gemüse eines Tages ernten und mit nach Hause nehmen zu können. Im Fall des Plagwitzer Bürgerbahnhofs kommt noch die Nutzung einer zuvor brachliegenden Fläche dazu, auf der nun sowohl Wohnraum als auch Orte der Begegnung entstanden sind.

Wenn wir daran denken, dass in vielen Metropolen dieser Erde Flächen wie der alte Leipziger Güterbahnhof existieren und zukunftsfähige Formen von Landwirtschaft dringend benötigt werden, drängt sich eine Frage geradezu auf: Können in naher Zukunft deutlich mehr Anlagen entstehen, die dem Hildegarten oder vergleichbaren Projekten ähneln? „Sicherlich, das wäre schön und sehr hilfreich“, ist Gerlinde überzeugt. Die Vorteile von Gemeinschaftsgärten liegen auf der Hand, der Erfolg (neben dem Hildegarten sind auch alle anderen mir bekannten Projekte stark nachgefragt) gibt dem Konzept Recht. In Leipzig brauchte es das energische und langfristige Engagement einer Initiative mit guten Beziehungen zu Akteuren der Stadtplanung, um aus der Vision „Bürgerbahnhof“ schließlich Realität werden zu lassen. Zahlreiche Kooperationen (eine Schulklasse baute im Hildegarten das Insektenhotel, mit Hilfe des Bildungszentrums INAB entstanden verschiedene Upcycling-Möbel und Pflanzregale sowie im Rahmen der „Essbaren Stadt“ die Gemeinschaftsbeete) halfen dabei, das Projekt immer weiter wachsen zu lassen. Die Finanzierung gelang durch Sachspenden, Muskelkraft, viel Engagement und seit letztem Jahr durch eine Förderung der Stadt. Keine Frage, Gemeinschaftsgärten könnten bei entsprechender Initiative noch an vielen weiteren Orten entstehen – die Flächen sind oft vorhanden, Motivation und Nachfrage auch. Im Mosaik eines zukunftsfähigen Ernährungssystems könnten die Gärten eine kleine, aber nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Die Geschichte des Geländes ist noch heute im Hildegarten sichtbar.
Auch ein Insektenhotel und Kompostbehälter befinden sich im Garten.

Die Mitglieder des Hildegartens werden sich währenddessen darauf konzentrieren, ihr eigenes Projekt weiterzuentwickeln. Die nächsten Ziele sind schon formuliert: Der Bau einer barrierefreien Toilette sowie die Anschaffung eines Eisenbahnwaggons, der auf den bereits vorhandenen Schienen untergebracht werden soll. „Das ist ein großer Traum von uns und würde super hier reinpassen“, sagt Gerlinde. Und auch sonst dürfte es sich lohnen, die Entwicklung des „urbanen Labors“ in Leipzig im Auge zu behalten – in Plagwitz-Lindenau werden in den kommenden Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Orte entstehen, die erste Entwürfe einer lebenswerten Zukunft sind. Was ich im Jahr 2020 sehe, ist ein Langzeitprojekt mitten in der Umsetzungsphase.

Durch Spenden an folgende Bankverbindung kann der HILDEGARTEN finanziell unterstützt werden: Denkmalsozial gGMBH Hildegarten, Leipziger Volksbank, IBAN: De05860956040303213171, BIC: GENODEF1LVB

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