In der dänischen Hauptstadt wird seit einigen Jahrzehnten eine Infrastruktur geschaffen, die das Fahrrad zum attraktivsten und in den meisten Fällen schnellsten Verkehrsmittel macht. Viele Ansätze, die zu dieser Situation geführt haben, können in anderen Städten dieser Welt ebenfalls funktionieren.
Als ich im Sommer 2019 zum dritten Mal nach Kopenhagen komme, weiß ich noch nicht, dass dieser Besuch später zum ersten Eintrag auf diesem Blog führen soll. Ich bin auf dem Rückweg aus dem Urlaub in Norwegen, habe in den letzten Tagen viel zu wenig geschlafen und nur wenige Stunden Zeit, um die dänische Hauptstadt zu erkunden. Durch einen Artikel, den ich einige Wochen zuvor in der New York Times entdeckt hatte (Der Titel lautete “Copenhagen has taken bicyce commuting to a whole new level”), war ich erstmals auf Kopenhagens Ruf als Fahrradstadt aufmerksam geworden. Eine schnelle Recherche ergab, dass alleine im Jahr 2019 zahlreiche Reportagen erschienen waren, die in eine ähnliche Richtung zielen: Die Süddeutsche Zeitung nennt Kopenhagen eine “Blaupause für die Fahrradstadt”, Deutschlandfunk spricht von einem “Ehrgeizigen Fahrradparadies” und die WELT AM SONNTAG gar von einer “Radfahr-Revolution”. Da ich nach dem Urlaub noch eine Hausarbeit zum Thema Nachhaltige Mobilität schreiben musste, lag die Schlussfolgerung auf der Hand: Warum nicht Kopenhagens (zumindest nach Ansicht der Artikel) einzigartige Fahrradinfrastruktur zum Thema machen und direkt vor Ort die ersten Recherchen anstellen? Heute, fast ein Jahr später, wird das Ganze nun auch noch zum ersten Positivbeispiel, das ich auf diesem Blog vorstellen möchte. Kopenhagen ist nämlich wirklich besonders!

Durch ihre gelungenen Kombination aus hoher Lebensqualität und Nachhaltigkeit hat sich Dänemarks Hauptstadt in vielen Erdteilen einen Namen gemacht. Erste Spuren der viel gepriesenen Fahrradinfrastruktur entdecke ich, als wir auf dem Weg vom Fährhafen durch die Vororte der 600.000-Einwohner-Metropole fahren. Im Zentrum wird dann immer deutlicher, dass Kopenhagen in der Tat keine normale Fahrradstadt ist. Nahezu alle Straßen werden, in fast allen Fällen durch Bordsteine getrennt, von asphaltierten Fahrradwegen flankiert. An einem verhältnismäßig kleinen Bahnhof ragt ein zweistöckiges Fahrradparkhaus in den Himmel. Und als wir an einer roten Ampel warten, überquert eine beeindruckende Kolonne an Radfahrerinnen und Radfahren die Straße. Neben uns, auf einem zweispurigen Fahrradweg, bildet sich währenddessen eine lange Schlange. “Da hast du dir wirklich die richtige Stadt ausgesucht”, schmunzelt jemand im Auto. Eine Stunde später, als wir endlich einen Parkplatz gefunden haben, verlasse ich den Rest unserer Reisetruppe und breche zu einem eigenen Sightseeing-Trip auf. Ich habe eine ambitionierte Route zusammengestellt, die mir in wenigen Stunden einen möglichst präzisen Eindruck der Fahrradinfrastruktur Kopenhagens verschaffen soll.
Fahrräder, die heute als Teil nachhaltiger Mobilitätskonzepte diskutiert werden, stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Karl von Drais entwickelte 1817 das erste Gefährt, das dem heutigen Fahrrad entfernt ähnelt. Die sogenannte “Draisine” enthielt noch keine Pedalen und wurde daher auch als Laufmaschine bezeichnet. Dennoch konnten Geschwindigkeiten von bis zu fünfzehn Stundenkilometern erreicht werden, was in der damaligen Zeit durchaus als Sensation galt. Die erste Serienproduktion eines Fahrrades startete, nachdem der Franzose Pierre Michaux 1889 sein “Velocipede” auf der Weltausstellung in Paris präsentiert hatte. Er hatte das Gefährt bereits 1862 entwickelt und gilt damit als möglicher Erfinder des Pedalantriebs. Auf der Weltausstellung war das Velocipede eine echte Attraktion und erhielt internationale Aufmerksamkeit. Zwanzig Jahre später entwickelte Henry John Lawson seine “Bicyclette”, die heute als das “erste modern Fahrrad” gilt und massenfähig wurde. Neu und revolutionär war in Lawsons Fall der Kettenantrieb auf das Hinterrad.

Ab diesem Punkt gleicht die Geschichte des Fahrrads einer Achterbahnfahrt. Anfang des 20. Jahrhunderts erfuhren Fahrräder, die noch immer den Modellen von Michaux und Lawson ähnelten, in der westlichen Welt einen starken Beliebtheitsschub und wurden in vielen Städten zum dominanten Verkehrsmittel. Schon damals tat sich Kopenhagen als Pionier hervor und legte 1905 den ersten Fahrradweg Europas an. Die in den Folgejahren entwickelte Methode, Fahrradwege abgetrennt von Hauptstraßen anzulegen, ist bis heute unter dem Namen “Copenhagen style” bekannt. Bis in die Mitte des Jahrhunderts wurde in Kopenhagen etwa jede zweite Fahrt mit dem Fahrrad zurückgelegt.
Mitte der Fünfzigerjahre kam es zu einem Wendepunkt, als das Auto im Eiltempo zum neuen Statussymbol wurde und sich Stadtplanung an vielen Orten der Erde entsprechend veränderte. Dieser Trend ließ sich auch in Kopenhagen beobachten, wo die Anzahl der Autos explodierte und Fahrradwege gleichzeitig nicht mehr erneuert oder gar in Parkplätze umgewandelt wurden. Fahrradverkehr galt als langsam, unsicher und überholt. In genau diesen Jahren wuchs Kopenhagen stark in die Breite; im gesamten Umland entstanden neue Arbeitsviertel und Vororte. Der durchschnittliche Weg zum Arbeitsplatz stieg von 3,4 Kilometern im Jahr 1945 auf sechs Kilometer im Jahr 1967 an, die Zahl der Autos vervielfachte sich parallel von 180.000 auf 1,6 Millionen. Innerhalb von nur einer Dekade war das Auto zum zentralen Verkehrsmittel geworden. Und diese Geschichte spielte sich nicht nur in Kopenhagen ab: In zahlreichen Städten auf der ganzen Welt wurde gerade in diesen Jahren jene Autoinfrastruktur errichtet, die noch heute das Erscheinungsbild prägt.
Anfang der Achtzigerjahre kehrte sich dieser Trend (was, wie diese gesamte historische Abhandlung, eine starke Vereinfachung ist) wieder um, wenn auch langsam und nicht an allen Orten der Erde. Als die negative Auswirkungen des Autoverkehrs (Luftqualität und Platzmangel seien hier als Beispiele genannt) an Bedeutung gewannen und erste Umweltorganisationen gegründet wurden, geriet das Fahrrad wieder mehr ins Blickfeld. Auch die beiden Ölkrisen spielten in dem Zusammenhang ihre Rolle. Kopenhagen nahm 1979 erstmals Gelder für die Radinfrastruktur in seinen Haushaltsplan auf und betont ab diesem Punkt immer häufiger den Anspruch, die Stadt wieder zum alten “Fahrradparadies” auszubauen. 1996 erschien der erste Bicycle Account, der bis heute alle zwei Jahre über die Situation der Radfahrererinnen und Radfahrer berichtet. Weitere wichtige Schritte folgten in immer kleineren Abständen: In der Verwaltung wurde eine zentrale Stelle für die Planung des Fahrradverkehrs eingerichtet. 2002 erschien ein Zehnjahresplan “für die Entwicklung des Fahrradverkehrs in Kopenhagen”, der ohne große Debatte verabschiedet und nach seinem Ablauf bislang stets erneuert wurde. Und als 2009 die United Nations Climate Change Conference (COP) in Kopenhagen stattfand, nutze die Stadt das zum Formulieren zweier neuer Leitbilder, “Miljømetropolen” (i.e “Nachhaltigkeitshauptstadt”) und „Metropol for Mennesker“ (i.e. Metropole für die Bewohner). In beiden Papieren wurde das Ziel festgehalten, mittelfristig die “fahrradfreundlichste Stadt der Welt” zu schaffen. Daran arbeitet Kopenhagen bis heute – derzeit in Form eines Masterplans, der bis 2025 umgesetzt werden soll.
Als ich im Sommer 2019 meine Tour unternehme, ist die dänische Hauptstadt auf diesem Weg schon wichtige Schritte gegangen. Der weltweit anerkannte “Copenhagenize Index”, der alle zwei Jahre die Fahrradfreundlichkeit verschiedener Großstädte bewertet und vergleicht, vergab den ersten Platz in diesem Jahr zum wiederholten Male an Kopenhagen (Regelmäßig auf den Plätzen zwei und drei landen Amsterdam und Utrecht in den Niederlanden. Beste deutsche Stadt ist Bremen auf Platz 11). Aktuelle Zahlen im Bicycle Account lesen sich beeindruckend: 49 Prozent aller Fahrten zur Arbeit oder Schule werden in Kopenhagen mit dem Fahrrad unternommen (in Deutschland sind es durchschnittlich unter zehn). 97 Prozent der befragten Kopenhagener sind zufrieden mit der Fahrradinfrastruktur, 77 Prozent fühlen sich beim Fahren “sicher und komfortabel”. Die Fahrzeit auf Radwegen nimmt genauso konstant ab wie die Anzahl der Unfälle und Verletzungen. Kopenhagen ist vielen konkreten Zielen, die es sich für 2025 gesetzt hat, schon sehr nah (Ein Ziel ist es beispielsweise, die Fahrradqoute auf dem Weg zu Arbeit und Schule auf mindestens 50 Prozent zu bringen).

Woran liegt das? Was macht Kopenhagen anders als Städte, in denen Radfahren mehr Risiko und Ärgernis als Spaß und Zeitersparnis ist? Bei meinem Besuch reichen zwei Stunden aus, um erste Antworten auf diese Fragen zu finden. Auf der Hand liegt, dass Fahrräder in Kopenhagen eine ungewohnt hohe Priorität besitzen. Das zeigt sich unter Anderem in dem ungewohnten Trend, dass derzeit durchschnittlich drei Prozent Autoparkfläche pro Jahr in Fahrradinfrastruktur umgewandelt werden. Diese Infrastruktur besteht aus einem dichten Netz hochqualitativer Fahrradwegen, die durch sogenannte “Grüne Wellen” (Ampeln, die so geschaltet werden, dass Radfahrer idealerweise mehrere Kreuzungen am Stück ohne Wartezeit überqueren können) sowie Fußstützen, Geländern und Mülleimern am Wegesrand viel Komfort bieten. Kopenhagen ist eine Stadt, die durch zahlreiche künstliche Kanäle und ehemalige Hafengebiete stark von Wasser geprägt ist – als Radfahrer wird das anhand zahlreicher Brücken deutlich, die teilweise als Teil neuer Fahrradstrecken angelegt wurden. Die dreihundert Meter lange “Harbour Bridge” erregte bei ihrer Eröffnung vor einigen Jahren weltweite Aufmerksamkeit und ist seitdem eine echte Touristenattraktion. Eine andere Brücke, Dronning Loises Bridge, ist mit 50.000 Radlerinnen und Radlern am Tag der am meisten befahrene Fahrradweg auf der ganzen Welt. Mit den “Bicycle Superhighways”, die das Kopenhagener Zentrum mit dem Umland verbinden sollen (derzeit sind 45 Routen mit einer Gesamtlänge von 750 Kilometern fertiggestellt, was einem Viertel der geplanten Strecken entspricht), und sogenannten “Green Bicycle Routes” – ausgewiesenen Naherholungsstrecken mit familiengerechten Attraktionen am Wegesrand – sind in Kopenhagen auch zwei besondere Typen an Radwegen anzufinden.


Die niedrigen Unfallszahlen in der dänischen Hauptstadt finden ebenfalls schnell ihre Erklärung. Durch den Umbau zahlreicher Straßenkreuzungen und die gezielte Ausweisung von Schulwegen wurde die Sicherheit für Radfahrerinnen und Radfahrer über die Jahre deutlich erhöht. Besonders gefährliche Kreuzungen wurden mit blinkenden LED-Leuchten ausgestattet, die beim Näherkommen eines Fahrradfahrers ruckartig aufleuchten. Gezielt ausgebaut werden auch die Fahrradstellplätze, welche im Idealfall überdacht sind und kostenlose Pumpstationen bieten. Hier besteht ausnahmsweise noch Nachholbedarf: Im aktuellen Bicycle Account zeigten sich nur 40 Prozent der Befragten mit den zur Verfügung stehenden Abstellmöglichkeiten zufrieden. Dass in Kopenhagen jedes zweite Fahrrad nicht an einem ausgewiesenen Platz abgestellt wird, unterstreicht das Problem. Am zentralen Nørreport-Bahnhof stehen heute 2400 Stellplätze zur Verfügung – an der Station Utrecht Central in den Niederlanden, die in etwa diegleiche Anzahl an Passagieren abfertigt, sind es 20.000. Diese Zahlen werden im Bicycle Account gezielt hervorgehoben und als Schlüsselherausforderung für die kommenden Jahre beschrieben. Das ist eine angenehme Art, mit Schwächen und Herausforderungen umzugehen – auch in den vergangenen Informationsbroschüren wurden bestehende Probleme klar benannt und in keinster Weise beschönigt.
Zuletzt setzt Kopenhagen auf zwei Angebote, die mittlerweile in vielen Großstädten anzutreffen sind. Seit 2010 können Fahrräder kostenlos in Zügen und Bussen befördert werden – das ist in vielen Metropolregionen noch heute anders und war es in Kopenhagen in der Vergangenheit auch. Zudem wurde im gesamten Stadtgebiet das Sharing-System “Bycklen” aufgebaut, das an über 100 Stationen E-Bikes mit Touchscreen zum Navigieren und Zahlen bereitstellt. Beide Maßnahmen trugen dazu bei, die Radfahquote entscheidend zu steigern.
Was ich in der dänischen Hauptstadt sehe, ist ausdrücklich keine vollständig umgesetzte Utopie. Die Schaffung der “fahrradfreundlichsten Stadt der Welt” ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist und weitere Investitionen benötigen wird. In den kommenden Jahren sollen im Innenstadtbereich mehrere zehntausend neue Stellplätze entstehen. Es laufen Experimente, die den Einsatz von E-Scootern und Speed Pedelecs auf ausgewählten Strecken erlauben. Ein Team arbeitet an der Entwicklung einer App, die möglichst schnelle Kombinationen aus Teilstrecken mit dem Fahrrad und ÖPNV berrechnen soll. Und auch mit dem Konzept der SmartCity wird in Kopenhagen experimentiert, derzeit anhand des Projekts “Mobimaestro”: Hier soll eine auf Fahrräder fokussierte Verkehrsflussanalayse in Echtzeit die Schaltung von Ampeln und Anzeigen koordnieren. In den nächsten Jahren werden weitere Bicycle Accounts mit weiteren Fortschritten erscheinen und noch viele neue Konzepte getestet werden – und dennoch ist Kopenhagen schon heute ein absolutes Positivbeispiel.

Welche Rolle das Fahrrad in Mobilitätskonzepten der Zukunft spielen wird, ist durchaus umstritten und soll hier auch nicht beantwortet werden. Auf der Hand liegt dennoch, dass viele der in Kopenhagen umgesetzten Lösungen – das visionsgesteuerte und langfristige Aufbauen einer hochqualitativen Infrastruktur mit Einbezug der Bevölkerung (neben dem partizipativ erarbeiteten Bicycle Account sind hier auch regelmäßige Workshops und Informationsveranstaltungen zu nennen) – auch in vielen anderen Großstädten dieser Welt Potenzial bieten. Das Fahrrad ist eine günstige, umweltfreundliche und auch optisch ansprechende Lösung – nicht umsonst sind die engen Kopenhagener Straßen, die von bunten Häuern, Straßencafés und an der Wand lehnende Fahrrädern flankiert werden, das wohl beliebteste Fotomotiv der Stadt. Fahrräder haben verglichen mit allen anderen Mobilitätsformen, die derzeit diskutiert werden, jederzeit die beste Umweltbilanz und sparen darüber hinaus Platz ein.
Natürlich bieten nicht alle unserer Metropolen die Voraussetzungen, um eine solche Fahrradinfrastruktur zu errichten. Topographie, Bevölkerungsdichte und Klima sind nicht immer so zum Radfahren geeignet wie in Dänemark. Auch finanzielle Aspekte spielen eine Rolle, ist die Errichtung der Kopenhagener Infrastruktur doch keinesfalls günstig gewesen und massiv aus der Staatskasse gefördert worden. Und dennoch bleibt festzuhalten: Alle Großstädte, die ich kenne, können fahrradfreundlicher gemacht werden. Kopenhagen zeigt (genau wie Utrecht oder Amsterdam), das mit langfristiger, visionsgesteuerter und partizipatorischer Planung eine wunderbare Lösung nachhaltiger Mobilität umgesetzt werden kann. Das ist der bestimmende Gedanke, als ich abends im Auto sitze und zurück in die Heimat fahre: Das, was ich hier gesehen habe, könnte in sehr vielen anderen Städten ebenfalls funktionieren.
Wenn du bei allen weiteren Utopien, die auf diesem Blog vorgestellt werden, per E-Mail informiert werden möchtest, kannst du gerne hier ein Abonnement abschließen! Ich würde mich sehr freuen 🙂